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Hans Paasche (1881-1920) führt ein filmreifes Leben: Er stammt aus gutbürgerlichem Elternhaus in Rostock, Deutschland, und geniesst eine klassische Bildung. Es folgen Schulabbruch und Eintritt in die deutsche Marine, was ihn erstmals nach Ostafrika führt, eine Region, die für ihn Zeitlebens eine Projektionsfläche für seine Sehnsüchte bleiben wird. Der Einsatz in der deutschen Kolonie prägt ihn; im Laufe seines Lebens wird er sich zum Pazifisten wandeln. Aus heutiger Sicht bleiben viele Widersprüche: Paasche ist Naturschützer und Grosswildjäger, er spricht Kiswahili und benützt das N-Wort, er trägt als Soldat das deutsche Kolonialprojekt mit, kritisiert die deutsche Kolonialverwaltung auch scharf. Seinen politischen Aktivismus wird Paasche am Ende mit dem Leben bezahlen: Reichssoldaten ermorden ihn auf seinem Landgut.
1909 heiratet Hans Paasche Ellen Witting. Das Paar bricht zur Hochzeitsreise ins heutige Rwanda auf und sammelt hunderte Objekte – geflochtene und geschnitzte Alltagsgegenstände, Schmuck, Musikinstrumente, Werkzeuge und Waffen –, die 1922 in den Besitz des heutigen Völkerkundemuseums gelangen. Über deren genaue Herkunft, ursprüngliche Besitzer, die Umstände der Übergabe und den Verkauf nach dem Tod des Ehepaars Paasche ist wenig bekannt.
Heute stehen die Herkunft der Objekte und ihrer Bedeutung für die Nachkommen der Menschen, die sie erschaffen haben, im Mittelpunkt der Forschung am Völkerkundemuseums der Universität Zürich. Die Ausstellung «Hochzeitsreise?» macht den Prozess dieser Forschung transparent – und zeigt die damit verbundenen Herausforderungen. Fünf Leitfragen zu den Stichworten «Kontext», «Provenienz», «Könnerschaft», «Zeitgenossenschaft» und «Rückbindung» ziehen sich konzeptionell wie auch räumlich durch die Ausstellung. Eine Weltkarte zeichnet die Reise der Objekte von Tansania und Rwanda bis nach Zürich nach. Biographische Angaben und Lesestationen mit Publikationen und Briefen stellen das Ehepaar Paasche vor.
Die Objekte werden in Tischvitrinen als «Rohdaten» der Forschung präsentiert – die Situation, mit der sich auch die Forschenden am Museum am Anfang ihrer Arbeit konfrontiert sehen. Die Szenografie verzichtet auf eine erneute Zurschaustellung der Objekte als Alltags- und Gebrauchsgegenstände im Ostafrika des frühen 20. Jahrhunderts. Dafür sind die Informationen des Völkerkundemuseum zu den Objekten zu sehen, etwa Karteikarten und Archivalien. An multimedialen Screens und im Medienguide werden erste Forschungsfährten angelegt, entlang derer im Verlauf der Werkstattaustellung Herkunft und Bedeutung der Objekte weiter erarbeitet werden. Dabei wird auch deutlich, welche Angaben fehlen. Wie verlässlich sind vorhandene Informationen eigentlich?
Ein Anliegen des Projekts ist es, zu lernen, welche Bedeutung die Sammlung und die Arbeit des Völkerkundemuseums für die Nachkommen der Objekt-Urheberinnen und -urheber haben und wie sie ihnen zugutekommen können. Für «Hochzeitsreise?» konnte Andre Ntagwabira, ein Archäologe und Spezialist für materielle Kultur der Rwanda Cultural Heritage Academy, dem Dachverband der staatlichen Kulturinstitutionen Rwandas, gewonnen werden. Sein Wissen erlaubt erste Antworten auf Fragen der Herkunft und Bedeutung einzelner Objekte, die während der Laufzeit der Werkstattausstellung vertieft und präsentiert werden. Kurator Alexis Malefakis sagt über die Zusammenarbeit: «Es war ein Glücksfall, Andre Ntagwabira kennenzulernen. Einige der Sammlungsobjekte stammen offensichtlich aus seinem Heimatort in Rwanda. Er hat also auch einen persönlichen Bezug zum Projekt und gehört gewissermassen zu den Nachkommen der Objekt-Urheberinnen und -Urheber.»
«Hochzeitsreise?» ist der Auftakt zu einer Serie von Ausstellungen, die den Prozess der Forschung zeigen: Bis 2024 läuft die Werkstattreihe, deren Ausstellungen sich jeweils einer bestimmten Sammlung am Völkerkundemuseum annehmen werden. Eine gewisse Irritation auf Seiten der Besucherinnen und Besucher ist einkalkuliert. «Wir zählen darauf, dass unser Publikum sich auf dieses Abenteuer einlässt und es auch spannend findet, sich mit der Komplexität der Fragen auseinanderzusetzen, die uns im Museum jeden Tag beschäftigen», sagt Direktorin des Völkerkundemuseums Mareile Flitsch.
Das Museum will so auch einen Beitrag leisten zur aktuellen Debatte um Provenienz und Restitution. Es gibt meist keine einfachen Antworten. Vielmehr sollen die fünf Leitfragen zeigen, dass jeder Fall eigene Herausforderungen mit sich bringt und zu anderen Antworten führen kann. Damit zeigt die Forschung an konkreten Beispielen die Komplexität der Thematik auf.