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Ein literarisches Erbe mit vielen Rätseln: Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser (1878–1956) hat nicht nur drei Romane und zahlreiche kleinere Texte hinterlassen, die er in Zeitungen und Zeitschriften in ganz Europa veröffentlichte, sondern auch 526 Papierbögen. Die losen Blätter sind dicht mit Bleistift beschrieben – und dies in klitzekleiner Handschrift. Zuweilen hat der Autor mehrere Miniaturtexte eng aneinandergedrängt auf einem Bogen platziert.
Nach ihrer Entdeckung galten diese Mikrogramme, die Walser zu Lebzeiten versteckt hielt, zuerst als unlesbar. Es kursierte sogar das Gerücht, der Autor habe eine unentschlüsselbare Geheimschrift benutzt. Bis dann die beiden Walser-Forscher Jochen Greven und Martin Jürgens ausgewählte Mikrogramme entziffern konnten. In der Folge gaben die Literaturwissenschaftler Bernhard Echte und Werner Morlang in jahrelanger Knochenarbeit einen Teil der 526 Blätter heraus und veröffentlichten sie unter dem Titel «Aus dem Bleistiftgebiet».
«Die Geschichte mit der Geheimschrift ist eine von vielen Mythen, die sich um die rätselhafte Figur von Robert Walser ranken», sagt Angela Thut, «tatsächlich sind die Mikrogramme in ganz normaler, wenn auch nur wenige Millimeter grossen, deutschen Kurrentschrift geschrieben und mit etwas Übung und Geduld meist gut lesbar.» Die Germanistin der UZH ist spezialisiert auf Walsers Mikrogramme und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Schweizer Autor.
Gemeinsam mit ihren Kollegen Christian Walt und Fabian Grossenbacher ist Thut wissenschaftliche Mitarbeiterin der «Kritischen Robert Walser-Ausgabe» an der UZH, einem wissenschaftlichen Grossprojekt der Universitäten Basel und Zürich, das sich seit seinem Start 2007 zum Ziel gesetzt hat, in rund 50 Bänden sämtliche Texte und Handschriften von Robert Walser kritisch zu edieren und zu veröffentlichen.
Initiiert wurde das Projekt ursprünglich vom mittlerweile emeritierten Zürcher Germanistikprofessor Wolfram Groddeck, der zusammen mit der Basler Forscherin Barbara von Reibnitz als Hauptherausgeber verantwortlich ist. Nun sind die Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in der Halbzeit ihres Mammutprojekts angelangt: Vor kurzem ist der 25. Band erschienen. Das stattliche Buch enthält eine Reihe von längeren und kürzeren Mikrogrammen, die Robert Walser 1925 in Bern geschrieben hat.
Nach seinen literarischen Anfängen in der Schweiz lebte Robert Walser von 1905 bis 1913 in Berlin, wo er versuchte, als Schriftsteller Karriere zu machen. Hier entstanden – zuerst mit Feder in schöner Reinschrift verfasst – seine drei Romane «Geschwister Tanner», «Der Gehülfe» und «Jakob von Gunten». Allein, der grosse Erfolg wollte sich nicht so richtig einstellen und so kehrte Walser mit dem Gefühl, gescheitert zu sein, in seine Heimatstadt Biel zurück.
1921 zog er dann nach Bern, wo seine legendären Mikrogramme entstanden sind. Romane veröffentlichte der Autor in dieser Zeit keine mehr, kleinere Texte wurden aber nach wie vor von Zeitungen und Zeitschriften gedruckt. Wie die Mikrogramme bezeugen, war Walser auch in seiner späten Schaffensphase sehr produktiv, bringen es doch die 526 Zettel in konventioneller Druckschrift gerechnet auf 5000 bis 6000 Seiten. Mit der neuen Edition wird das Ausmass dieser schriftstellerischen Arbeit nun in ihrem ganzen Umfang und Zusammenhang ersichtlich.
Die losen Blätter waren so etwas wie Robert Walsers literarisches Experimentierlabor – eine Brutstätte für neue Ideen. Hier entwickelte er neue Texte, zuweilen eben mehrere gleichzeitig auf einem Bogen. Wie Keime in einer Petrischale steckten sich diese gegenseitig an. «Man kann beobachten, wie bestimmte Motive durch Walsers Mikrogramme wandern», sagt Angela Thut.
Besonders gut verfolgen lässt sich dieses Phänomen in der Edition der Kritischen Walser-Ausgabe, die nun erstmals sämtliche Mikrogramme in ihrem konkreten Entstehungskontext herausgibt. Darin finden sich neben hochaufgelösten Faksimiles der Originalhandschriften in ebenfalls kleiner, aber gut lesbarer Druckschrift übertragene Texte, die die Gestaltung der Mikrogramm-Blätter exakt nachahmen. Zudem werden die Walser'schen Miniaturen mit allen Verbesserungen, die der Autor angebracht hat, in normaler Laufschrift abgedruckt.
Dieses dreistufige Verfahren machte eine differenzierte Auseinandersetzung mit Walsers Mikrogrammen möglich und gibt so neue Einblicke in die Werkstatt des Schriftstellers. «Wissenschaftlich-kritische Ausgaben wie diese sind Motoren für interessante, neue Forschung», ist UZH-Literaturprofessor und Walser-Liebhaber Davide Giuriato überzeugt. Tatsächlich sind im Zusammenhang mit der Kritischen Walser-Ausgabe schon zahlreiche Dissertationen entstanden.
Für Giuriato zeigt sich in den Mikrogrammen die Modernität des Schriftstellers Robert Walser. Denn moderne Autoren wie Friedrich Nietzsche, Thomas Mann und eben Walser hätten sich intensiv mit den physischen Seiten des Schreibens beschäftigt. Für sie war die Schriftstellerei nicht nur eine geistige, sondern auch eine körperliche Arbeit. Und so suchten sie nach den geeigneten Schreibgeräten, achteten auf eine inspirierende Arbeitsumgebung und entwickelten eigene Schreibverfahren.
Friedrich Nietzsche etwa experimentierte mit der Schreibmaschine. «In der Literaturwissenschaft sprechen wir von der Produktionsästhetik», sagt Davide Giuriato, dieser Aspekt des Schreibens sei heute ein wichtiges Forschungsthema. Robert Walser hat mit seinen Mikrogrammen eine ganz eigene, unvergleichliche literarische Methode und mit dem Bleistift sein Lieblingswerkzeug gefunden.
In seiner Berner Zeit verfasste der Autor vor allem Gedichte und kürzere Prosa. Vieles davon konnte er in Zeitungen aus Berlin, Prag und Wien bis nach Ungarn publizieren. Dazu übertrug er die Mikrogramme mit der Feder in Reinschrift und sendete sie an die Redaktion. Mehr als die Hälfte dieser Miniaturtexte blieben aber unveröffentlicht. Da-
runter auch Walsers letzter Versuch, einen Roman zu schreiben.
Dieser so genannte Räuber-Text ist Teil des neu erschienenen 25. Bandes der Kritischen Walser-Ausgabe. Er handelt von einem sozialen Aussenseiter, dem Räuber, der ausser dem Schreiben keiner Tätigkeit, dafür einigen Damen nachgeht und der deshalb von der Herrengesellschaft, die für Wirtschaft und Geld steht, verachtet wird. «Eigentlich hat der Text aber keinen, zumindest keinen einfachen Plot», sagt Davide Giuriato. Die Geschichte schweift ständig ab und hat letztlich vor allem das Erzählen selbst zum Gegenstand. Publiziert wurde der Text zu Walsers Lebzeiten nicht. Zwar wurde der «Räuber» posthum vom Suhrkamp Verlag 1972 als «Roman» veröffentlicht. Die Edition in der Kritischen Robert Walser-Ausgabe macht dagegen den Entwurf-Charakter deutlich und eröffnet ganz neue Zugänge dazu.
Mit seinem Ringen war Robert Walser nicht ganz allein. Auch andere grosse Schriftsteller der literarischen Moderne wie Franz Kafka oder Robert Musil haben geplante Romane nicht zu Ende gebracht, sagt Literaturforscher Giuriato. Robert Walser hat dann fast ganz mit dem Schreiben aufgehört. Das war 1933 in der Heil- und Pflegeanstalt Herisau. Die Gründe, die zu diesem Entschluss geführt haben, sind unklar. Auch dies wird ein Rätsel bleiben – den Bleistift hat Robert Walser jedenfalls für immer zur Seite gelegt.
Dieser Text stammt aus dem UZH Magazin 3/2021