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In Zürich hat Richard Wagner zwischen 1849 und 1858 unter anderem die Partituren seiner berühmten Opern «Rheingold» und «Walküre» geschrieben, dirigierte der berühmte Komponist Johannes Brahms 1895 das Eröffnungskonzert der damals neuen Tonhalle. Rund 600 Jahre zuvor entstand (1300 bis 1340) in der Limmatstadt der Codex Manesse, die umfangreichste Sammlung von Lied- und Spruchdichtungen des Spätmittelalters. Und viel später, 1951, wurde der wegen seiner Modernität nicht unumstrittene Komponist Paul Hindemith der erste Professor für Musikwissenschaft an der Universität Zürich.
Dies sind nur einige Themen aus der reichen Musikgeschichte der Stadt, die das zehnjährige Forschungsprojekt «Musik in Zürich – Zürich in der Musikgeschichte» an der UZH untersucht hat. Aus diesem Projekt herausgewachsen ist nun der Stadtführer «Musik in Zürich. Menschen – Orte – Institutionen», der von den beiden Forschern Bernhard Hangartner und David Reißfelder herausgegeben wurde. In einem lexikalischen Teil umfasst das handliche Buch 253 kurze Porträts zu wichtigen Protagonistinnen und Protagonisten und zahlreiche Einträge zu wichtigen Orten und Institutionen aus der Musikgeschichte der Stadt.
Im Anhang sind diese in mehreren Stadtkarten vermerkt und lassen sich so zu individuellen Entdeckungsreisen durch die Musikstadt Zürich zusammenstellen. Ergänzt werden die Karten durch einen Rundgang durch die Zürcher Altstadt, der in 16 Stationen Anekdotisches und Wissenswertes zum Musikleben der Stadt in der Vergangenheit vermittelt. Wir haben drei am Projekt beteiligte Forschende gebeten, einen kurzen Text zu einem musikhistorischen Ort in der Stadt Zürich oder zu einer Person zu schreiben, der/die ihnen besonders wichtig ist.
Inga Mai Groote, Professorin für Musikwissenschaft
Druckerei Froschauer: Lieder und Lernmaterial
Christoph Froschauer d.Ä. († 1564) ist heute noch gut bekannt als Drucker der Zwinglischen Bibel und Gastgeber des Wurstessens in der Fastenzeit 1522, das die Zürcher Reformation befeuerte. Für die Musikgeschichte der Stadt und Region spielte seine Firma aber ebenfalls eine wichtige Rolle, denn er druckte neben religiösen, literarischen und wissenschaftlichen Titeln auch Gesangbücher, Liedersammlungen und Musiklehrbücher. Die Firma entwickelte im Stadtbild eine ähnliche Präsenz wie heute die Gebäude von Musik Hug: Sie expandierte gegenüber der Predigerkirche, zwischen Brunngasse und – heutiger – Froschaugasse; zur Druckerei kamen nach und nach Schriftgiesserei, Buchbinderei, eine gepachtete Papiermühle und Läden.
Die Gesangbücher, meist mit abgedruckten Noten, waren zunächst für die umliegenden Regionen der Schweiz und Süddeutschlands bestimmt. 1533 produzierte Froschauer das erste reformierte Kirchengesangbuch der Schweiz, für
St. Gallen vom dortigen Rat herausgegeben. 1552 druckte er ein ungefähr DIN A2-formatiges Lernplakat für den Musikunterricht beim Lehrer Johannes Fries an der Grossmünsterschule: Es zeigt alle wichtigen Regeln, die Notenzeichen und ein paar Übungen auf einen Blick und lässt sich in der Klasse aufhängen (siehe Bild). Parallel dazu gab es ein «normales» Lehrbuch gleichen Inhalts.
Ohne materielle Spuren liesse sich der Umgang mit Musik in der Vergangenheit kaum rekonstruieren – und gerade Produktion, Vertrieb und Benutzung von Büchern zeigen, wer Zugang zu Musik hatte und was gefragt war. Typischerweise zielen Musikalien in gemischten Verlagsprogrammen besonders auf lokale oder regionale Märkte. Das Poster als ungewöhnlicheres Medium gibt Einblick in die damalige Didaktik und erlaubt es, konkret zu rekonstruieren, was auch «Nicht-Profis» an Musik lernten (oder lernen sollten): ein Zürcher Junge in den 1550ern konnte demnach Noten lesen und singen, kannte ein Stück des weltberühmten Komponisten Josquin, aber auch einen Rebus über Notennamen, der angeblich vom grossen Humanisten Erasmus von Rotterdam stammte. Ob er seine Notenkenntnisse im Alltag benutzte und mit anderen musizierte, ist dann eine Frage an andere Quellen…
Laurenz Lütteken, Professor für Musikwissenschaft
Richard Wagner: Kreativer Rausch in Zürich
Inmitten des reichen Zürcher Musiklebens gibt es auch Phasen und Momente, in denen in der Stadt wirkliche musikalische Weltgeschichte geschrieben worden ist. Der Aufenthalt Richard Wagners gehört zweifellos dazu. Der Komponist traf, als Flüchtling, Ende Mai 1849 in Zürich ein und blieb, von einigen Reisen abgesehen, bis zum August 1858 in der Stadt. Es war eine der stabilsten und produktivsten Phasen seines unruhigen Lebens, geprägt von einem grundsätzlichen Neubeginn und einem regelrechten kreativen Rausch.
In Zürich entstanden die wichtigsten seiner theoretisch-ästhetisch-ideologischen Schriften, die Dichtung des «Ring des Nibelungen», die Partituren von «Rheingold», «Walküre» und der ersten beiden «Siegfried»-Akte sowie weite Teile des «Tristan», in Zürich wurden die Wesendonck-Lieder komponiert, Klavierwerke sowie die Neufassung der «Faust»-Ouvertüre. Der erste Akt der «Walküre» erlebte in Zürich seine Uraufführung, Wagner selbst dirigierte etliche Konzerte und Opern, nicht nur eigene, sondern auch solche von Beethoven, Bellini, Mozart oder Weber. Und die Stadt ist von zentraler Bedeutung für seine «Meistersinger von Nürnberg».
Es ist eigenartig, dass Zürich diesen Status als genuine «Wagner-Stadt» nie angenommen hat, sieht man von einer kurzen Phase um 1900 ab. Dabei ist das Stadtbild auch heute noch von einer erstaunlichen Fülle von Spuren und Zeugnissen, die an Wagners Aufenthalt und Wirken erinnern, durchzogen. Dazu gehören das Haus zum Schwert; die Wohnungen am Rennweg 55 und an der Oetenbachgasse 7; das frühere Casino (heute Obergericht) am Hirschengraben, der Ort zahlreicher seiner Konzerte und der ersten Festspiele; seine wichtigsten Wohnungen am Zeltweg (in den Escherhäusern), wo bedeutende Partituren entstanden; das Hotel Baur au Lac, der Ort von Lesungen und Aufführungen; und natürlich die Villa Wesendonck (heute Museum Rietberg). Selbst in der unmittelbaren Umgebung Zürichs finden sich noch spektakuläre Wagner-Orte, vom Haus Mariafeld in Meilen bis zur Heilanstalt Albisbrunn in Hausen. Es lohnt sich also auch heute, die Spuren Wagners im republikanischen Zürich der 1850er Jahre zu erkunden.
Bernhard Hangartner, wissenschaftlicher Mitarbeiter Musikwissenschaft
Bircher-Benner-Klinik: Müesli und musikalische Pensionäre
Was hat die Bircher-Benner-Klinik in einem Musik-Stadtführer zu suchen? Das 1904 an der Keltenstr. 48 eröffnete und nach 90 Jahren geschlossene Sanatorium auf dem Zürichberg hinterliess eine umfangreiche Dokumentation, die heute im Archiv für Medizingeschichte der Universität Zürich aufbewahrt wird. Zum 100-Jahr-Jubiläum der Bircher-Benner-Klinik fand 2004 ein Symposium statt, für das ich angefragt worden bin, die Akten von Patientinnen und Patienten aus dem Musik-Berufsfeld zu untersuchen. Eine Zusammenfassung der faszinierenden Erkenntnisse gibt Antwort auf die eingangs gestellte Frage.
Maximilian Oskar Bircher-Benner (1867–1939), in Aarau aufgewachsen, studierte Medizin und promovierte 1891 in Zürich. Die Krankheitsbilder seiner Patienten brachten ihn auf die Idee, eine Rohkostdiät zu entwickeln, deren bekanntestes Produkt das «Bircher-Müesli» wurde. 1904 gründete er auf dem Zürichberg eine Klinik, in der er eine gesamtheitliche Ordnungstherapie anwandte, die aus einem geregelten Tagesablauf und einem ausgefeilten Ertüchtigungsprogramm bestand.
Als Pensionäre und in ambulanter Behandlung hielten sich dort auch viele Musikerinnen und Musikern auf: darunter der 22-jährige Wilhelm Furtwängler, Hermann von Glenck, Otto Klemperer, Bruno Walter viermal seit 1931, die Sängerin Delia Reinhardt-Sebastian, der Komponist Pierre Maurice, Arthur Honegger drei Jahre vor seinem Tod als sehr kranker Mann, Hans Rosbaud zwei Jahre vor seinem Tod und seit 1953 fast als Stammgast und sicher als Freund der Birchers, Yehudi Menuhin mit seiner Familie. Beispielhaft ist, wie ausgehend von einem Ehepaar, der Pianistin Elly Ney und dem Dirigenten Willem van Hoogstraten, nachweislich ein Beziehungsnetz von Musikern und Begleitpersonen zum Besuch der Klinik bewogen wurde.
Die Stationen der Klinik: 1939 Tod Max Bircher-Benners, Weiterführung der Klinik durch zwei seiner Söhne; 1973 Übernahme durch den Kanton Zürich; 1994 mangels Auslastung geschlossen; 1998 Kauf durch die Zürich Versicherungs-Gesellschaft und Ausbau zum Zurich Development Center.
Literatur: Bernhard Hangartner/David Reißfelder (Hg.): Musik in Zürich. Ein Stadtführer. Menschen – Orte – Institutionen, Chronos Verlag, Zürich 2021