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Kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine lancierte der Schweizerische Nationalfonds einen Aufruf an hiesige Hochschulen und Universitäten, ukrainische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für einen einjährigen Gastaufenthalt in der Schweiz vorzuschlagen. Der Gastaufenthalt wird von «Scholars at Risk» finanziert, einem weltweiten Netzwerk, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Gefahr – zum Beispiel durch Verfolgung oder Krieg – beisteht. 36 Hochschulen, Fachhochschulen und Universitäten in der Schweiz machen bei «Scholar at Risk» mit, auch die UZH.
Der interdisziplinär aufgestellte Universitäre Forschungsschwerpunkt «Human Reproduction Reloaded | H2R (UFSP H2R) hat nun die ukrainischen Juristinnen Dr. Kateryna Moskalenko und Dr. Oksana Kashyntseva aus Kiew für einen Gastaufenthalt einladen können. Sie bereichern das interdisziplinäre Forschungsteam des UFSP H2R, das die gesellschaftlichen Auswirkungen und die rechtlichen Herausforderungen der Reproduktionsmedizin breit erforscht, insbesondere um das Thema der «kommerziellen» Leihmutterschaft in der Ukraine.
Dr. Kateryna Moskalenko ist Associate Professor am Civil Law Department of Education and Scientific Institute of Law an der Taras Shevchenko National University of Kyiv und hat sich als Rechtsanwältin auf die rechtlichen Aspekte der Leihmutterschaft spezialisiert.
Dr. Oksana Kashyntseva ist Co-Leiterin des Center for Harmonization of Human Rights und leitet das Department of Human Rights an der National Academy of Law Sciences of Ukraine. Ausserdem arbeitet sie in verschiedenen Arbeitsgruppen zur Reform des ukrainischen Gesundheitswesens mit; so entwickelt sie u. a. für das Parlament eine neue Public-Health-Strategie 2030 mit und ist in die Ausarbeitung eines spezifischen Gesetzes zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung involviert.
UZH News hat sich mit den ukrainischen Gastwissenschaftlerinnen getroffen.
Wie geht es Ihnen, hier in Zürich, am Universitären Forschungsschwerpunkt «Human Reproduction Reloaded»?
Kateryna Moskalenko: Ich kam am 11. April in Zürich an, so hatte ich bereits die Gelegenheit, verschiedene Forschende am UFSP H2R kennenzulernen und an sehr interessanten Veranstaltung dieses Forschungsprogramms teilzunehmen. Da ich meine Habilitation zur Gesetzgebung in der Reproduktionsmedizin schreibe, ist es für mich eine riesige Chance, am UFSP H2R mitzuarbeiten. Die Infrastruktur hier ist grossartig, ich habe Zugang zu einer fantastischen Bibliothek und bin in Projekte involviert, die von Fachleuten aus den verschiedensten Disziplinen wie Ethnologie, Ethik oder Soziologie geleitet werden. Dieser interdisziplinäre Einblick ins Thema Reproduktionsmedizin ist für mich eine sehr wertvolle Erfahrung, über die ich sehr glücklich und für die ich sehr dankbar bin.
Oksana Kashyntseva: Dem kann ich nur zustimmen, vielen herzlichen Dank für die Einladung an den UFSP «Human Reproduction Reloaded». Ich bin zwar erst zwei Wochen hier, doch konnte ich in dieser kurzen Zeit bereits an interessanten Diskussionen teilnehmen, die für meine Kommissionstätigkeit im Gesundheitsbereich für das ukrainische Parlament von grossem Wert sind.
Am 31. Mai werden Sie beide einen öffentlichen Vortrag an der UZH halten, zu dem alle Interessierten eingeladen sind. Was möchten Sie den Zuhörerinnen und Zuhörern mit auf den Weg geben?
Kateryna Moskalenko: Ich werde über die rechtlichen Aspekte der Leihmutterschaft in der Ukraine sprechen. In meinem Heimatland sind die Rahmenbedingungen sehr liberal, aber die Gesetzgebung ist noch lückenhaft – wir haben seit Jahren kein spezielles Gesetz zu den Rechten in Bezug auf die medizinisch unterstützte Fortpflanzung. Ich werde die bestehende rechtliche Situation skizzieren und den Rechtsentwurf vorstellen, der Ende letztes Jahr an das ukrainische Parlament übergeben worden ist. Auch werde ich die Probleme mit der aktuellen Gesetzgebung anhand ausgewählter Rechtsfälle aufzeigen sowie – last but not least – auf die aktuelle Situation der Leihmutterschaft jetzt, während des Krieges, eingehen.
Oksana Kashyntseva: Ich werde über die ethischen und rechtlichen Aspekte der Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung, kurz: ART, sprechen (ART steht für «assisted reproductive technologies»; Anm. d. Red.), und zwar wie sie von der ukrainischen Gesellschaft wahrgenommen werden. Die meisten Menschen in der Ukraine sind nicht sehr religiös, jedoch sehr darauf bedacht, dass die Menschenrechte nicht verletzt werden.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie als Wissenschaftlerin in Zürich arbeiten, während Putins Armee Ihr Heimatland Ukraine angreift?
Kateryna Moskalenko: Um ehrlich zu sein, war es für mich eine sehr schwierige Entscheidung, nach Zürich zu kommen. Selbst als bekannt wurde, dass ich für das Stipendium ausgewählt worden bin, habe ich gezögert. Doch dann wollte meine Familie, dass ich in Sicherheit bin, und sie überzeugte mich, zu gehen – schliesslich ist es eine grosse berufliche Chance, und wenn die Zeiten friedlich wären, würde niemand zögern, sie wahrzunehmen.
Wichtig ist für mich aber auch, dass ich immer noch an der Taras Shevchenko National University of Kyiv unterrichte. Ich denke, es ist jetzt meine grösste patriotische Pflicht, die Studierenden zu beschäftigen, sie zu inspirieren und sie vielleicht auch vom Krieg in der Ukraine abzulenken. Mehr als die Hälfte von ihnen kommt zum Unterricht, und sie sind gut vorbereitet und motiviert. Mir scheint, dass sie Sinn und Halt im Lernen gefunden haben, gerade auch während des Krieges, und das finde ich sehr gut. Ich engagiere mich auch in einigen humanitären Freiwilligenbewegungen, und wenn man mich um Hilfe bittet, helfe ich immer, sei es als Anwältin oder als Organisatorin oder Leiterin solcher Projekte. Ich versuche nun einfach, so gut wie möglich von hier aus zu einer Minderung der Auswirkungen des Krieges beizutragen.
Oksana Kashyntseva: Für mich war es wohl die schwierigste Entscheidung meines Lebens, hierher zu kommen. Zuvor hatte ich versucht, in einem Krankenhaus in Lviv zu helfen, aber mir fehlten dazu die nötigen Fähigkeiten, und es gibt viele Freiwillige, die diese Arbeit besser machen. Auch ich stehe immer noch in Kontakt mit meinen Studierenden und Doktorierenden an unserem Institut in Kiew. Ich hoffe, dass ich mein neues Wissen, das ich hier erwerbe, an sie weitergeben kann. Der Krieg ist eine grosse Herausforderung für sie. Sie versuchen, weiterhin Artikel zu schreiben, und ich hoffe, dass ich sie von hier aus unterstützen kann. Und für die Zukunft plane ich, meine an der UZH gesammelten Erfahrungen in die Ukraine zu bringen. Ich hoffe, damit einen kleinen, aber nützlichen Beitrag für die ukrainische Rechtswissenschaft leisten zu können.
In der Ukraine können verschiedengeschlechtliche Ehepaare, die nicht schwanger werden können, eine Leihmutter beauftragen, ein Kind für sie auszutragen. Ist die Leihmutterschaft in der Gesellschaft akzeptiert?
Oksana Kashyntseva: In der Gesellschaft ist die Leihmutterschaft akzeptiert, weil sie ein verbreiteter und erprobter Bereich der Fortpflanzungsmedizin geworden ist, der sich seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine entwickelt hat. Wir haben also eine gute Expertise in Verfahren der Fortpflanzungsmedizin wie der Leihmutterschaft. Natürlich gibt es Einwände von Vertretern der verschiedenen Kirchen. Aber was den Rest der Gesellschaft betrifft, so werden kaum ernsthafte Bedenken geäussert. Vor dem Krieg gab es sogar vom Staat finanzierte Programme für interessierte Paare, die Verfahren der Fortpflanzungsmedizin in Anspruch nehmen wollten.
«Ein Argument für die Einführung
der kommerziellen Leihmutterschaft
war die Transparenz.»
Kateryna Moskalenko
In der Schweiz ist die Leihmutterschaft verboten. Welche Argumente wurden in der Ukraine für die Zulassung der kommerziellen Leihmutterschaft angeführt?
Kateryna Moskalenko: Da in den meisten anderen europäischen Ländern höchstens die unentgeltliche, «altruistische» Leihmutterschaft zulässig ist, habe ich über die Vor- und Nachteile der «kommerziellen» bzw. «altruistische» Leihmutterschaft nachzudenken begonnen. Die Argumente, die in der Ukraine für die kommerzielle Leihmutterschaft sprachen, waren die Transparenz des Marktes für Fortpflanzungsmedizin, der Schutz von Kind, Wunscheltern und Leihmutter sowie der Zugang zu einer grösseren Auswahl an Leihmüttern. Hätten wir nur die altruistische Leihmutterschaft zugelassen, wäre die Auswahl der Leihmütter auf Verwandte oder enge Freundinnen beschränkt gewesen. Unsere Erfahrung mit den kommerziellen Leihmutterschaftsprogrammen in der Ukraine ist, dass Leihmütter nicht immer nur wegen des Geldes teilnehmen, sondern oft wirklich den Paaren helfen wollen, ihr Kind zur Welt zu bringen. Es gab keinen Grund, die Möglichkeit der Wahl der Leihmutter abzulehnen.
Wenn man jedoch den Einfluss und die Macht der Wunscheltern und der Leihmutter vergleicht, stellt man fest, dass die Leihmutter aufgrund sozialer und finanzieller Ungleichheiten der schwächere Teil des Leihmutterschaftsprogramms ist. Dieses Ungleichgewicht sollte durch die Verabschiedung eines speziellen Gesetzes verbessert werden, in dem die Interessen und Rechte der Leihmutter vorgesehen und geschützt werden.
Oksana Kashyntseva: Ich habe zehn Jahre als Rechtsvertreterin von Wunscheltern gearbeitet, und aufgrund dieser Erfahrung kann ich sagen, dass Leihmütter und Wunscheltern nach der Geburt des Wunschkindes oft sehr herzliche und enge Beziehungen pflegen. Die gemeinsame Erfahrung verbindet sie über Monate und manchmal über Jahre. Wichtige Argumente für die kommerzielle Leihmutterschaft in der Ukraine kommen auch von Ärzten und Ärztinnen: Sie betonen, dass die Risiken der beteiligten Parteien – Kliniken, Leihmütter, Wunscheltern – bei der medizinisch unterstützten Fortpfanzung durch den Zugang zu Versicherungen gemildert werden sollten.
«Wir betrachten die Leihmutterschaft
als eine medizinische Behandlungsmethode,
nicht als eine käufliche Dienstleistung.»
Oksana Kashyntseva
Die Leihmutterschaft in der Ukraine wird wohl hauptsächlich von reichen ausländischen Paaren in Anspruch genommen …
Oksana Kashyntseva: … bitte denken Sie nicht, dass die Leihmutterschaft in der Ukraine nur von reichen Paaren in Anspruch genommen wird. Es gibt auch Paare aus der Mittelschicht, die sie in Anspruch nehmen, weil sie wirklich ein Kind bekommen wollen. Und die Leihmütter übernehmen einen Auftrag oft nicht nur aus finanziellen, sondern auch aus sozialen Gründen: Weil sie anderen die langersehnte Elternschaft ermöglichen wollen. In der ukrainischen Rechtslehre betrachten wir die Leihmutterschaft als eine medizinische Behandlungsmethode, nicht als eine käufliche Dienstleistung. Es gibt klar definierte medizinische Indikationen dafür: das Fehlen der Gebärmutter und der Fall, dass die Schwangerschaft aufgrund einer Erkrankung eine direkte Bedrohung für das Leben und die Gesundheit der potenziellen Mutter darstellt.
Oksana Kashyntseva, Sie arbeiten an der Entwicklung einer neuen Public-Health-Strategie 2030 und an der Ausarbeitung eines spezifischen Gesetzes zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung in der Ukraine mit. Was ist Ihr wichtigster Rat an die Regierung in Bezug auf Leihmutterschaft?
Oksana Kashyntseva: Es sollte ein Sondergesetz erlassen werden, das allen Menschen Zugang zu Verfahren der Fortpflanzungsmedizin gibt, unabhängig vom sozialen Status, vom Geschlecht und von der sexuellen Orientierung. Die Rechte der Leihmutter müssen auf Gesetzesebene definiert und geschützt werden, und alle medizinischen Risiken müssen obligatorisch versichert werden.