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Derzeit drängen die Leute nicht wegen Covid-19 ans Impfzentrum am Hirschengraben 84 des EBPI. Sondern weil sie Impfungen gegen Gelbfieber oder eine Malaria-Prophylaxe brauchen, die für Reisen in ferne Länder empfohlen werden. «Wir sind bei den Reiseimpfungen fast auf Vor-Pandemie-Niveau», sagt Puhan. «Viele gehen auf längere Reisen, und Familien wollen endlich ihre Angehörigen im Ausland – von der Subsahara bis Brasilien – wieder besuchen.» Diese Reisen wollen sich offenbar viele auch von den neuen Omikron-Varianten nicht vermiesen lassen.
Für das EBPI ist das «grassierende Reisefieber» nach mittlerweile gut zweijährigem Totaleinsatz gegen die Covid-19-Pandemie schon fast angenehmer Courant normal. Das EBPI ist ja nicht nur das Referenz-Impfzentrum des Kantons Zürich gegen SARS-CoV-2, sondern es kümmert sich seit 1988 auch breit um den Bevölkerungsschutz (z. B. Reisemedizin) und um die Prävention (z. B. von chronischen und psychischen Erkrankungen) im Kanton Zürich. «Mit Corona sind wir generell zu einem Referenz-Impfzentrum geworden», so Puhan.
Das EBPI hat aber nicht nur jahrelange Erfahrung mit Serviceangeboten wie Impfen und Testen, sondern auch mit Forschungsprojekten. Das hat sich in der Pandemie als enormer Vorteil erwiesen. «Unsere grosse Expertise sowohl in der Forschung als auch als Dienstleister hat sich während Corona ausbezahlt», sagt EBPI-Direktor Milo Puhan, «Forschung und Dienstleistungen haben sehr voneinander profitiert.» Das EBPI war durch das Testen und Impfen immer am «Puls» der Pandemie und konnte die parallel laufende Forschung von Corona Immunitas zum anfangs unbekannten neuen Corona-Virus nutzen.
Die umfassendste Studie ist Corona Immunitas, in der das Infektionsgeschehen in der gesamten Schweizer Bevölkerung und die sozialen und psychologischen Auswirkungen der Pandemie sowie Long Covid erforscht werden – aktuell nur noch an den drei Standorten Zürich, Tessin und Waadt. Die gesammelten Daten werden dezentral erfasst und können auf weitere Fragestellungen hin untersucht werden.
Auf den Kanton Zürich fokussiert die Zürich-SARS-CoV-2-Kohorten-Studie (ZSAC). Sie untersucht, wie gut sich die kurzfristige und langfristige Immunantwort von Personen im Kanton Zürich nach einer SARS-CoV-2-Infektion aufbaut und wie lange sie anhält. «Wir sehen zum Beispiel, dass sich viele Leute nach einer Erstinfektion auch noch mit der Omikron-Variante infizieren, doch vor schweren Verläufen sind die meisten geschützt», so Puhan.
Auch zu Long Covid konnte mithilfe der ZSAC-Daten einiges herausgefunden werden. «Gut 20% der Personen mit nachgewiesener Infektion leiden im Kanton Zürich unter Long Covid,», sagt Puhan. ZSAC hat unter anderem klar gezeigt, dass oft Personen mit vorbestehenden Krankheiten wie Lungen- oder Herzproblemen oder Personen, die einen schweren Verlauf hatten, Long Covid entwickeln. Puhan zum gegenwärtigen Erkenntnisstand: «Die gute Nachricht ist: Bei den meisten verbessert sich Long Covid, und viele erholen sich auch ganz. Die schlechte Nachricht: Es ist hartnäckig und dauert lange, oft 12 oder gar 18 Monate.» Und noch immer beschränkt sich die Behandlung auf die Linderung der Symptome, da der grosse Durchbruch bei Verständnis und Therapie von Long Covid noch aussteht, ergänzt von Wyl.
ZSAC zeigt auch, was viele vermuten: «Praktisch alle hatten mittlerweile Kontakt mit der Omikron-Variante», so Puhan. Das zeigt sich darin, dass in der Bevölkerung hohe Antikörper-Level nachgewiesen werden können. Die Mehrzahl der Antikörper haben die Leute nach den Impfungen gebildet. Doch auch unbemerkte Reinfektionen mit Omikron «boostern» vor schweren Verläufen, so von Wyl. «Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass rund die Hälfte der Bevölkerung im Kanton Zürich eine unbemerkte oder milde Omikron-Infektion hatte», so Puhan. Diese Situation ist vermutlich der Grund, weshalb der Bund derzeit nicht eine weitere Impfempfehlung ausspricht – ausser für gefährdete, vulnerable Personen.
Die Zwillingsstudie von ZSAC (die auf Infektionen fokussiert) ist die Zürich-SARS-CoV-2-Impf-Kohorte (ZVAC), die die Wirkung von Impfungen untersucht. ZVAC untersucht regelmässig 575 Personen, die mit einem der zugelassenen Impfstoffe geimpft wurden, auf ihren Immunstatus. Beide Studien werden vom Bundesamt für Gesundheit unterstützt.
Im Herbst 2021 wurde zum Beispiel klar, dass in der Schweiz einfach zu wenig Personen geimpft oder genesen sind, um die Folgen von SARS-CoV-2 einzudämmen. Damals initiierte das EBPI unter Leitung von Professor Jan Fehr die Idee von Impftrams und Impfbussen, die im ganzen Kanton Zürich niederschwellig bzw. «niederflurig» zum Impfen einluden. «Unser Team hatte gemerkt, dass wir näher zu den ungeimpften Personen gehen müssen», sagt Milo Puhan.
Die Forschenden überlegen sich derzeit zusammen mit dem Bundesamt für Gesundheit, wie man bei einer nächsten Krise am besten vorgeht. Für die verschiedenen Forschungsgruppen könnte eine Art Forum oder Plattform geschaffen werden, wo man sich austauscht und versucht, die unterschiedlichen Befragungen der Bevölkerung zu harmonisieren, so eine der Ideen. Alle Datenerhebungen sollten so ausgestaltet sein, dass die daraus resultierenden Erkenntnisse einfach mit den Studienergebnissen anderer Forschungsgruppen verglichen werden können.
Doch der Austausch harter Fakten allein reicht nicht. «Man muss auch die unterschiedlichen Bedürfnisse erkennen», so von Wyl. So kann man in der Wissenschaft gut mit Wahrscheinlichkeiten, Annahmen und Unsicherheiten umgehen. In der Politik hingegen braucht es rasch klare Informationen, aufgrund derer entschieden werden kann und die kommunizierbar sind. «Es braucht eine gewisse Zeit, bis sich Wissenschaft und Politik in der hektischen, schnellen Anfangsphase einer Gesundheitskrise aufeinander eingestimmt haben», erinnert sich von Wyl.
Puhan erzählt, wie das EBPI während der heissen Phase der Pandemie vorging: Wissenschaftler zeigten den Entscheidungsträgern jeweils die Vor- und Nachteile von Massnahmen auf und erwähnten auch die Unsicherheiten. «Wir sagten der Politik nie, wie sie zu entscheiden habe», so Puhan. Letzten Endes mussten die Politikerinnen und Politiker selbst abwägen, was aus ihrer Sicht zielführend war. «Ich glaube, es wurde sehr geschätzt, dass wir nicht zu bestimmten Entscheidungen drängten.» Und von Wyl ergänzt: «Aus dieser Erfahrung lässt sich für die Zukunft sicher was lernen.»
Ein Pluspunkt war auch, dass alle Forschungsstudien wie z. B. das MS-Register, die am EBPI seit Jahren laufen, während der Corona-Pandemie weitergeführt werden konnten. Das grosse Know-how am EBPI, wie man Studien aufgleist und durchführt, konnte während Corona sogar verstärkt an andere Hochschulen und Organisationen weitergegeben werden. «Wir sind im Forschungsbereich enorm gewachsen», freut sich Puhan.
Eine Erkenntnis findet der Epidemiologe für die Zukunft besonders wichtig: «Wir konnten im Laufe der Corona-Pandemie ein grosses Verständnis dafür aufbauen, wie man Studien miteinander verbindet und finanzielle, methodische oder personelle Synergien nutzt.» Ein Beispiel: Vor Corona war eine geplante Studie zur Häufigkeit von Demenz, die vom Tessin aus geleitet wird, nicht finanzierbar. Während der Corona-Pandemie, die die über 65-Jährigen zu einer wichtigen Untersuchungsgruppe machte, konnte der Demenz-Aspekt bei den Corona-Immunitas-Studien einfach in Form eines Interviews angehängt – und mitfinanziert – werden. «Hätte man eine solche Studie einzeln durchgeführt, wäre das mindestens drei Mal so teuer geworden», so Puhan.
Um das EBPI-Know-how, wie man repräsentative Studien in der Bevölkerung durchführt und Synergien zwischen Forschungsgruppen nutzt, an der UZH breit verfügbar zu machen, möchte Puhan ein Population Research Center aufbauen, wie es dies in den USA bereits gibt, nicht aber in Europa. Dieses soll die Forschungsexpertise am EBPI in einem Pool bereitstellen für Forschende aus verschiedenen Disziplinen – Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Politikwissenschaft etc. –, die Bevölkerungsstudie planen und durchführen und in gewissen Bereichen Unterstützung brauchen. Im Juli kann dank der Unterstützung einer Stiftung bereits die Stelle eines Scientific Managers für das Population Research Center ausgeschrieben werden.
«Dass es eine ganzheitliche Sicht braucht, war vielleicht die grösste Erkenntnis von Corona», resümiert Puhan. Diese Erkenntnis sollte in Zukunft bei Krisen welcher Art auch immer nicht vergessen gehen. Es braucht die Ausarbeitung eines Krisenmanagements, das neben dem Monitoring der messbaren Fakten auch «weiche» Faktoren wie das Verhalten der Bevölkerung, die individuellen Lebensumstände (z. B. von Kindern, Jugendlichen, Migrant:innen) und das Wohlbefinden der Personen (Betagte, Kranke, Jugendliche, Pflegepersonal) mit berücksichtigt. Das ist der Königsweg, damit in Krisen von der Politik verordnete Einschränkungen von der Bevölkerung akzeptiert werden. Dafür will sich das EBPI in Zukunft weiter einsetzen: dass sich Politik und Forschung als Teile eines grösseren Ganzen verstehen, ihre Anstrengungen verstärkt koordinieren und miteinander zusammenarbeiten.