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Sie sticht sofort ins Auge, die orangefarbene Installation aus Schaumstoff in der Ausstellung «Planet Digital» der UZH und des Museums für Gestaltung Zürich. Die zackenförmige Skulptur gleicht einerseits einem Bergrelief. Andererseits, wie ihr Name Datensofa «Vertigo» besagt, ist sie ein möbelartiges Objekt, auf dem man sitzen kann.
Die Installation lädt dazu ein, sich mit einem spannenden Phänomen auseinanderzusetzen, dem Gleichgewichtsreflex. Denn die Grundlage für diese Installation sind Daten, die aus der Messung dieses Reflexes hervorgehen. Diese Messdaten wiederum stammen aus der klinischen Arbeit des Neuro-Ophthalmologen Konrad Weber. «Die Gestalt unserer Installation ist eine dreidimensionale Visualisierung von Datenkurven», erklärt er. Gemeinsam mit seiner Schwester, der Künstlerin Elisabeth Eberle, hat er die Idee für die Installation entwickelt.
Weber ist am interdisziplinären Zentrum für Schwindel und neurologische Sehstörungen des Universitätsspitals Zürich und als Privatdozent an der UZH tätig. Er erforscht das Zusammenspiel von Auge, Gehirn und Gleichgewicht – insbesondere entwickelt er diagnostische Tests für Patientinnen und Patienten mit Störungen der Augenbewegungen und des Gleichgewichts.
Gleichgewichtsstörungen können verschiedene Ursachen haben. Sie treten beispielsweise bei einem einseitigen Ausfall des Gleichgewichtsorgans im Innenohr aufgrund einer Entzündung des Gleichgewichtsnervs auf. Der einseitige Ausfall führt zu einem Ungleichgewicht der beiden Gleichgewichtsorgane und dadurch zu einem heftigen Drehschwindel. Auch Migräne oder ein Schlaganfall können Schwindel verursachen.
Um die Gleichgewichtsstörungen und Schwindel seiner Patientinnen und Patienten zu diagnostizieren, misst Weber ihren Gleichgewichtsreflex. Dieser sogenannte vestibulo-okuläre Reflex ist einer der schnellsten im menschlichen Körper überhaupt. Er reagiert mit einer Verzögerung von etwa 10 Millisekunden; im Vergleich dazu ist die Verarbeitung des Seheindrucks zehnmal langsamer.
Der vestibulo-okuläre Reflex stabilisiert, wenn wir unseren Kopf bewegen, die Augen im Raum – ähnlich wie ein Bildstabilisator einer Videokamera. Das heisst: Drehen wir den Kopf nach links, korrigiert der Reflex die Drehung, sodass der Blick noch immer geradeaus gerichtet ist. Funktioniert der Gleichgewichtsnerv normal, gibt es für jede Kopfbewegung die genau gleiche Gegenbewegung der Augen. Liegt ein Ausfall vor, müssen die Augen die Bewegung ausgleichen, dies zeigt sich in schnellen ruckartigen Rückstellbewegungen, sogenannten Sakkaden.
Für die Messung des Gleichgewichtsreflexes hat Weber eine spezielle Methode mit modernster Technologie entwickelt: den Video-Kopfimpulstest, der mit einer leichten, portablen Video-Infrarotbrille durchgeführt wird. Hierfür wird der Kopf der Patienten ruckartig horizontal bewegt, um die korrespondierenden Augenbewegungen zu analysieren. Dabei misst ein Gleichgewichtssensor in der Brille die Geschwindigkeit der Kopfdrehungen, zugleich trackt eine Infrarotkamera die Augenbewegungen. Mittels Infrarot-Video färben sich die Pupillen der Patienten ganz schwarz, sodass ihre Bewegungen besser verfolgt werden können. «Das Verhältnis der Messung zwischen Kopfdrehung und ausgleichenden Augenbewegungen ergibt dann den Gleichgewichtsreflex», erklärt Weber.
Die verwendete Infrarot-Brille hat Weber vor einigen Jahren mit einem Team der University of Sydney entwickelt. «Mittlerweile ist der Video-Kopfimpulstest internationaler Standard zur Messung der Gleichgewichtsfunktion», sagt er. Die hochmoderne Technologie ersetzt einen über 100 Jahre alten, sehr unangenehmen Test, bei dem in beide Ohren hintereinander warmes und kaltes Wasser gespült werden musste. «Überdies ist der Video-Kopfimpulstest auch viel, viel schneller und genauer», so Weber.
Das ausgestellte Datensofa «Vertigo» basiert auf den Originaldaten eines Patienten mit einem einseitigen Gleichgewichtsausfall. Dabei «materialisieren» sich die verschiedenen Parameter des Kopfimpuls-Tests dieses Patienten folgendermassen am Ausstellungsobjekt: Jede der Schaumstoff-Schichten stellt eine Augenbewegung dar. Dabei sind die einzelnen Augenbewegungen ihrer Grösse nach sortiert. Die Zacken hinter der Lehne reflektieren die Augenbewegungen, die das Defizit des Gleichgewichtsreflexes ausgleichen. Die Lehne des Sofas veranschaulicht die übriggebliebene Gleichgewichtsfunktion, während die Tiefe des Sofas der Messdauer von 500 Millisekunden entspricht. «Man kann sich also bequem am Gleichgewichtsreflex anlehnen, um sich auf dem Sofa in Balance zu halten», hält Weber schmunzelnd fest.
Wie ist er auf die Idee gekommen, aus seinem diagnostischen Datenmaterial eine Installation zu kreieren? «Wichtig war natürlich der Austausch und die Zusammenarbeit mit meiner künstlerisch tätigen Schwester», sagt Weber. Der Ausgangspunkt findet sich allerdings bereits in seiner wissenschaftlichen Methodik.
«Ich bin ein sehr visueller Mensch und suchte daher nach einer Darstellungsmethode, mit der man die Daten des Kopfimpulstests intuitiv interpretieren kann», so Weber. Daher hat er für seine wissenschaftlichen Publikationen eine 3D-Darstellung der Testresultate entwickelt. Da dieses dreidimensionale Gebilde bereits auf dem Computerbildschirm sehr ansprechend wirke, sei die Idee, daraus eine Skulptur wie das Sofa zu erschaffen, naheliegend gewesen.
«Viele wissenschaftliche Bilder haben einen ästhetischen Charakter – zum Beispiel können mathematische Muster künstlerisch inspirieren», fügt Weber hinzu. Nicht zuletzt möchte er den Ausstellungsbesucherinnen und -besuchern diesen Aspekt der Ästhetik der Wissenschaft mitgeben.