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Von den frühen Hochkulturen bis heute sind Bibliotheken eine feste Grösse in unserem intellektuellen und kulturellen Leben. Ihre rund fünftausendjährige Geschichte ist von der Sammlung, Speicherung und Bereitstellung physischer Objekte an physischen Orten bestimmt. Die digitale Revolution hat die Rahmenbedingungen für die Bibliotheksarbeit grundlegend verändert. Die Zukunft des Wissens baut nicht mehr auf Druckwerken, sondern auf Daten auf, die von Software verarbeitet, in Clouds gespeichert und auf Plattformen geteilt werden. Apodiktisch schwebt eine Frage über den Datenwolken: Wenn das relevante Weltwissen im Internet zur Verfügung steht, wozu brauchen wir dann noch Bibliotheken?
Eine gut kuratierte und umfassende Sammlung von Büchern und Schriften galt über Jahrhunderte hinweg als Statussymbol – beim römischen Bildungsbürger wie beim fürstlichen Bücherfreund, bei den Medici und den deutschen Dichtern, im Vatikan und in Klöstern. «Wissen ist Macht», dieses Bonmot spiegelt sich seit jeher auch in der repräsentativen Architektur von Bibliotheken wider – man denke nur an die Stiftsbibliothek St. Gallen mit ihrem Prunksaal in feinster Rokokogestaltung oder an die prächtigen Nationalbibliotheken, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Europa und den USA entstanden. Eliteuniversitäten zogen in der Vergangenheit Forschende und Studierende nicht zuletzt durch ihre herausragenden Bibliotheken an. Wer sich im altehrwürdigen Lesesaal der Harvard Library über seine Bücher beugte, konnte sich am Puls des akademischen Diskurses wähnen.
Ende des 20. Jahrhunderts hat sich der Informationsmarkt allerdings grundlegend verändert. Information ist nicht mehr nur an das physische Leitmedium Buch oder die gedruckte Zeitschrift gebunden, sondern wird vermehrt digital gehandelt. Das Internet erlaubt den Zugriff auf Daten orts- und zeitunabhängig. Die Wissenstradierung ist nicht mehr unmittelbar an die klassischen Institutionen gebunden; im virtuellen Raum treten nun zahlreiche neue Akteure auf, die Informationen verfügbar machen und Wissen aufbereiten. Im Mission Statement der Internetfirma Google, des derzeit wohl einflussreichsten Players am Informationsmarkt, heisst es: «Das Ziel von Google besteht darin, die Informationen der Welt zu organisieren und allgemein zugänglich und nutzbar zu machen.» Das Gleiche gilt auch für das Traditionsunternehmen Bibliothek.
Im Zusammenhang mit der digitalen Revolution in Medien und Kommunikation wurde auch schon das Ende der Gutenberg-Ära ausgerufen. Ganz so dramatisch will es Rudolf Mumenthaler, seit Januar dieses Jahres Direktor der Universitätsbibliothek Zürich, nicht ausdrücken. Aber auch der Experte für Bibliothekswissenschaft und -management sieht in der Digitalisierung einen Paradigmenwechsel, einen fundamentalen Wandel der Bibliothekswelt, vergleichbar mit der Erfindung des Buchdrucks.
Die Verwendung von beweglichen Bleilettern revolutionierte ab Mitte des 14. Jahrhunderts die herkömmliche Methode der Buchproduktion (die zeitintensive händische Abschrift) und löste in Europa eine wahre Medienrevolution aus. Die Produktion und der Vertrieb von Büchern stiegen exponentiell an, in die Sammlungen von Bibliotheken kam eine neue Dynamik. Die explo-sionsartige Verbreitung von Bücherwissen und Informationen führte in der Folge zu einer stetigen Alphabetisierung und Leseentwicklung. Waren in den Post-Gutenberg-Zeiten Bücher und Schriften die begehrte Handelsware der Bibliotheken, sind es im 21. Jahrhundert Daten und digitale Publikationen.
«Um zu überleben, mussten sich Bibliotheken im Laufe der Zeit immer wieder verändern», sagt Rudolf Mumenthaler. Sie mussten auf politische und sozioökonomische Modernisierungsprozesse reagieren und sich an den gesellschaftlichen und technischen Fortschritt anpassen. «Insofern sind Bibliotheken durchaus robuste Institutionen, die aus mancher Krise gelernt haben und es gewohnt sind, sich selbst und ihren Grundauftrag kritisch zu hinterfragen und neu zu interpretieren.» Als Beispiel für die periodischen Innovationsschübe nennt Mumenthaler die verschiedenen historischen Demokratisierungswellen, die auch die jeweiligen Bildungssysteme erfassten und in deren Folge etwa die Public Libraries in den USA und Grossbritannien und die öffentlichen Lesehallen im deutschsprachigen Raum entstanden. Thomas Jefferson, einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, erdachte einst das Konzept einer Bibliothek, aus der man unentgeltlich Bücher ausleihen konnte.
Dass einmal eine Zeit kommen würde, in der 20 oder
30 Millionen Menschen gleichzeitig auf eine digitale Bücherei zugreifen und deren Inhalt kostenlos abrufen, hätte sich dieser grosse Pionier in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können.
Um die Jahrhundertwende sah sich das Bibliothekswesen mit einer fundamentalen Identitätskrise zwischen dem analogen Buchzeitalter und der digitalen Ära der Algorithmen konfrontiert. Heute scheinen seine Selbstverortung in der Infrastruktur des virtuellen Raums und seine Selbstbehauptung in einer posttypografischen Wissenskultur selbstverständlich. Längst haben Bibliotheken auf den Digitalisierungsdruck reagiert und sich für neue Aufgaben und Funktionen gerüstet.
Der Anstoss für die Entwicklung digitaler Universitätsbibliotheken ging von den Forschenden (vor allem von den in einer weltweiten Community vernetzen Physikerinnen und Physikern) aus und wurde von Informationsanbietern aufgenommen – etwa von wissenschaftlichen Verlagen, Fachgesellschaften und auch von Bibliotheken –, die Informationen zunehmend in elektronischer Form zur Verfügung stellten. «Die Bibliotheken haben früh die neuen technologischen Möglichkeiten genutzt», sagt Rudolf Mumenthaler. Ihre Kataloge digitalisiert, digitale Inhalte lizenziert, neue Recherchemöglichkeiten angeboten, analoge Text-, Bild- und Toninformationen digitalisiert und über das Internet bereitgestellt. Heute zählen sie zu den Protagonisten der elektronischen Ära. Aus den Hütern des Weltwissens sind im Access-Zeitalter Gatekeeper geworden, die ihren Nutzerinnen und Nutzern mit Lizenzen, Portalen und Kooperationen Zugang zu weltweit verfügbaren Informationsangeboten garantieren.
Wissen und wissenschaftliche Information allen zugänglich zu machen, ist – trotz oder gerade wegen des Internets – also einer der zentralen Daueraufträge von Bibliotheken geblieben – sei es in Form von Leseförderangebote für Kinder oder Workshops zum Ausbau der digitalen Fähigkeiten von Studierenden, sei es über den Erwerb von lizenzierten E-Journals und Datenbanken oder, in jüngster Zeit, die Unterstützung universitärer Open Access Policies, durch die Administration und Bereitstellung wissenschaftlicher Primär- und Forschungsdaten.
Für Universitätsbibliotheken gewinnt der letzte Punkt zunehmend an Bedeutung. Häufig wird das für Forschungszwecke erhobene Datenmaterial von den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern individuell abgelegt und verschwindet weitgehend hinter den Publikationen. Hier eröffnet sich für Bibliotheken ein attraktives Betätigungsfeld: der Aufbau, die Bearbeitung, Verwaltung und Archivierung von wissenschaftlichen Daten-Korpora. Mehr noch: Wenn die Bibliotheken zu Zentren der neuen Informations- und Wissensmanagementsysteme werden und Forschende mit verschiedenen Dienstleistungen bei datengetriebenen Themen und Projekten unterstützen, werden sie selbst Teil des Forschungsprozesses. Dann wird nicht mehr nur in, sondern mit der Bibliothek geforscht.
Um die Rolle der Bibliotheken als Anbieter von Infrastruktur und Dienstleistungen für die akademische Forschung in den digital transformierten Universitäten zu schärfen, hat an der Universitätsbibliothek Zürich gerade eine neue Projektgruppe (DSI Community Libraries) unter der Leitung von Rudolf Mumenthaler ihre Arbeit aufgenommen. «Bibliotheken sind heute wichtiger denn je», ist der promovierte Historiker überzeugt. In Zeiten von Wikipedia, Google und Fake News sowie exponentiell steigenden Daten- und Informationsmengen, die eine Priorisierung erschweren, werde das Kuratieren externer Inhalte immer wertvoller. «Denken Sie nur an den aktuellen Corona-Diskurs. Bibliotheken als unabhängige Instanzen können hier zur Orientierung der Öffentlichkeit und zur Qualität der Debatte beitragen, indem sie geprüftes Relevanzwissen kenntlich machen.»
Den Wert sogenannter «information literacy» oder «data literacy services» als eines der Kernangebote der Bibliotheken von morgen sieht Mumenthaler auch für Forschung und Lehre. Auf der Basis von national und international verknüpften digitalen Forschungsinfrastrukturen werden Bibliotheken für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie für Studierende zukünftig individualisierte und auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Leistungen anbieten. «Es liegt in der Natur und in der Tradition der Bibliotheken, sich am Bedürfnis der Gesellschaft und der einzelnen Benutzer auszurichten», meint Mumenthaler. Nur dass man es im 21. Jahrhundert nicht länger mit dem «geneigten Leser» zu tun hat, sondern mit anspruchsvollen Kunden, die sich auf dem freien Informationsmarkt die attraktivsten Güter und Angebote herauspicken können.
Der Wandel von der Buchbibliothek des 20. Jahrhunderts hin zum serviceorientierten Wissenszentrum des 21. Jahrhunderts lässt sich auch an der Architektur ablesen. Die Zeiten, in denen die Bibliothek vor allem als Aufbewahrungs- und Abholraum von Medien diente und meterlange Regalsysteme das Bild prägten, verblassen allmählich. Zukünftiges Wissen wird vor allem Clouds und Server benötigen, keine Gebäude aus Beton und Glas. «In vorvergangenen Zeiten stand der Mensch im Mittelpunkt der Bibliothek und die Bücherhallen boten Raum für Begegnung, Integration, Lernen und Erleben – daran wird heute wieder angeknüpft», erzählt Mumen-thaler. In der Aufklärung waren die Bibliotheken beliebte Versammlungsorte, um über neuste wissenschaftliche Erkenntnisse zu debattieren. Und schon die Bibliothek von Alexandria diente Studierenden und Interessierten als eine Art Wissensmarktplatz, der die Möglichkeit zu Informationsaustausch und Interaktion bot.
In diesem Sinne liegt die Zukunft der Bibliotheken tief verwurzelt in ihrer reichhaltigen Tradition. Das zeigt sich nicht zuletzt an den zum Teil spektakulären, zum Teil technologisch innovativen Neu- und Umbauten von Bibliotheken, die von Aarhus bis Zürich vielerorts rund um den Globus entstehen und eher an die glorreichen Wissenstempel von einst denn an die öffentlichen Dienstleistungsbauten der letzten 50, 60 Jahre erinnern. In der modernen Bibliothek stehen im Innern nicht die bis dato geltenden Kernfunktionen, nämlich Magazin, Ausleihe und Informationsbeschaffung, im Zentrum, sondern ein möglichst vielseitiges Angebot an Aufenthalts- und Arbeitsumgebungen – Makerspaces zum Beispiel, in denen die Benutzerinnen und Benutzer kreativ arbeiten können. Was Rudolf Mumenthaler vor allem in den letzten zwei Corona-Jahren beobachtet hat, ist ein deutlich gestiegenes Bedürfnis nach multifunktionalen Bibliotheksräumen – etwa mit Zonen für Gruppenarbeiten und virtuelle Meetings und akustisch abgeschirmten Arbeitsinseln.
Brauchen wir also trotz Suchmaschinen, Web und virtuellen Welten noch Bibliotheken? Rudolf Mumen-thalers Antwort ist eindeutig: «Ja! Die Bibliothek bleibt auch in der globalisierten und digitalen Wissensgesellschaft ein wichtiger öffentlicher und sozialer Ort.» Ein realer Treffpunkt zwischen Arbeitsstätte, Studienort und Zuhause, an dem man mit anderen Menschen gemeinsam lesen, lernen und kommunizieren kann. Und eine Institution, die wie keine zweite zwischen Vergangenheit und Zukunft vermitteln kann.