Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Zeitreise nach Zürich

«Ich mag Überraschungen»

Hildegard Keller ist Professorin für ältere deutsche Literatur an der UZH, Autorin und Filmregisseurin. Im Interview mit UZH News spricht sie über ihren neuen Dokumentarfilm, der die Geschichte des Hauses Brunngasse 8 in Zürich erzählt.
Marita Fuchs
Der Dokumentarfilm Brunngasse 8 (62 Minuten, 2022, Regie und Drehbuch: Hildegard Keller) verbindet das Mittelalter mit der Gegenwart.

 

Frau Keller, im Film lernen wir Silvana Lattmann, eine italienische Dichterin und Biologin kennen. Nun ist Ihr Fach ja ältere deutsche Literatur? Das ist überraschend.

Ich mag Überraschungen. Es ist tatsächlich so, dass die Begegnung mit Silvana ganz am Anfang stand. Und das kam so: 2015 zeigte ich meinen ersten Film «Whatever Comes Next» in Schweizer Kinos. Nachdem Tatiana Crivelli, meine Kollegin im Romanischen Seminar, ihn gesehen hatte, schlug sie mir einen Besuch bei Silvana vor. Bis es dazu kam, sollte einige Zeit vergehen, aber als Tatiana und ich vor der Brunngasse 8 standen, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Als Mittelalterforscherin kannte ich das Haus. Dass Silvana ausgerechnet dort wohnte, war ein glücklicher Zufall. Sie war die Bewohnerin der Wohnung mit mittelalterlichen Wandmalereien. Wir konnten sie noch in ihrer Wohnung filmen und so auch die Verbindung zwischen ihrem Leben und der Vergangenheit ans Licht bringen.

Was erzählen die Wandmalereien aus dem Mittelalter?

Die Wandgemälde, die sich im Korridor und in der Wohnung im ersten Stockwerk befinden, laden dazu ein, sich die Koexistenz zwischen der christlichen Mehrheit und der jüdischen Minderheit in Zürich auszumalen. Dargestellt sind Tanzszenen, höfische Motive wie die Falkenjagd und Wappen einflussreicher Familien.

Sie sind Professorin für mittelalterliche Literatur, Dokumentarfilmerin und auch Autorin des jüngst erschienenen Romans «Was wir scheinen» mit Hannah Arendt. Gibt es etwas, das alle diese Tätigkeiten verknüpft?

Ja, es ist die erzählerische Herausforderung, die sogenannt grosse und die kleine Geschichte zu verbinden.

Streben Sie das auch in Ihrer Lehre an?

Ja, auf jeden Fall. Das Filmprojekt, an dem ich seit 2016 arbeitete, hat mich inspiriert, auch die Studierenden der UZH daran teilhaben zu lassen und dies mit meinem ersten Storytelling-Seminar zu verbinden. Es fand im Frühjahr 2018 statt, und die Beiträge zur Brunngasse 8, die die Studierenden produzierten, bildeten den Grundstein zu zurichstories.org. Einige der Studierenden arbeiteten im Filmteam mit. Damals waren die Dreharbeiten zum Film Brunngasse 8 noch nicht abgeschlossen.

Hildegard Keller ist freie Autorin, Kulturunternehmerin und Professorin für ältere deutsche Literatur. Am Deutschen Seminar unterrichtet sie Multimedia-Storytelling.

Und Sie haben all die Jahre an dem Film gearbeitet?

Es gab eine sehr lange Pause. Die Suche danach, wie ich Geschichte erzählen kann, setzte ich im Roman «Was wir scheinen» fort. Erst als er in Druck ging, fühlte ich mich gewappnet, den Erzählfaden im Film wieder aufzunehmen und fertig zu spinnen.

Der Dokumentarfilm «Brunngasse 8» läuft ab 16. Januar in den Kinos in Zürich. Was erwartet die Zuschauerinnen und Zuschauer?

Ein Dokumentarfilm mit Animation. Sechs Personen kommen zu Wort: der Stadtarchäologe von Zürich, ein jüdischer Psychiater, ein Schriftsteller, ein Rabbiner, eine Handschriftenkennerin, Silvana die älteste Bewohnerin des Hauses und eine schwarze Maus ist auch dabei. Es geht um das Miteinander, in guten Zeiten wie auch in Krisen, damals wie heute über Fakten und Fiktion. Ein Zürich-Film, ein Mittelalter-Film und von der Thematik der schwarzen Pest her auch ein Brückenschlag in unser Hier und Jetzt.

In dem Haus an der Brunngasse 8 lebte um 1330 eine Frau Minne. Mehrere Akteure im Film machen sich Gedanken über die Rolle der Frau in dieser Zeit. Wie war das für Sie, als Mittelalterforscherin hinter der Kamera?

Hochinteressant! Einerseits fabulierte der Schriftsteller Raoul Schrott über die Liebe, schlug Brücken zwischen den scharfen Krallen des Falken und der geheimnisvollen Frau Minne und bezauberte mit seiner Fantasie. Andererseits entpuppte sich der Rabbiner Elijahu Tarantul als profunder Kenner der mittelalterlichen Kulturgeschichte. Er ist es auch, der die Zuschauer in die Rolle einer so einflussreichen Frau wie die Matriarchin an der Brunngasse 8 einführt, lebensnah aus jüdischer Perspektive.

Juden und Christen lebten damals Tür an Tür, galt Zürich als besonders tolerante Gesellschaft?

Was sich mit Gewissheit sagen lässt, ist, dass die Juden um 1330 nicht in einem Ghetto lebten. Dass es Interaktion zwischen Christen und Juden gab, die wohl weit über Geschäfte hinausgingen. Was sich die Familie an der Brunngasse an die Wände malen liess, ist ein kostbares Anschauungsbeispiel.

In dem Film taucht wie ein Schatten auch immer wieder eine Maus auf. Was hat das Tierchen mit Zürich von heute und damals zu tun?

Die Maus stammt aus der Rahmenerzählung, einer spätmittelalterlichen Legende über die Vergänglichkeit. Die schwarze Maus steht für die Nacht. Deshalb hat sie am Tag auch Zeit, in der Zürcher Altstadt, aber auch im Zoo und in Italien herumzuschnüffeln, bis sie am Abend ins Buch zurückmuss.