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Mitte des 19. Jahrhunderts kämpfte London mit einer Cholera-Epidemie. 14000 Menschen fanden den Tod. Die damaligen Wissenschaftler machten Dünste, so genannte Miasmen, für die Verbreitung der Krankheit verantwortlich. Der Arzt John Snow sah das anders. Er sammelte Daten zur Epidemie und konnte nachweisen, dass es im Umfeld einer Trinkwasserpumpe besonders viele Tote gab. Als die Pumpe abgestellt wurde, kam es zu einem Stillstand der Cholerawelle. Aber nicht nur das, ein Mikrobiologe, mit dem Snow zusammenarbeitete, konnte nach der Untersuchung von Patienten und Wasserproben schliesslich den Erreger der Krankheit nachweisen.
«Snow war ein innovativer Forscher – indem er die Epidemie aus einer neuen Perspektive betrachtete, konnte er das Problem lösen», sagt Onicio Leal, «er war der erste moderne Epidemiologe und ist heute noch ein Vorbild für mich.» Auch Leal ist Epidemiologe und Public-Health-Forscher – und wie Snow ein äussert kreativer. In seiner Forschung wirft er mit Hilfe neuester digitaler Technologie einen frischen Blick auf die öffentliche Gesundheit.
Der 34-Jährige forscht am Center for Child Well-Being and Development des Department of Economics der UZH. Dort ist er an einem Projekt beteiligt, das die Lebens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern im südafrikanischen Malawi verbessern will. Das ist ganz im Sinn des jungen Forschers. Sein Leitspruch, der auch seine persönliche Website ziert, lautet: «Doing science for a purpose». Wissenschaft soll einem konkreten sozialen Zweck dienen. «Ich sehe mich als Brückenbauer zwischen Forschung und Gesellschaft», sagt Leal. Onicio Leal stammt aus dem nördlichen Teil Brasiliens. Seine Eltern sind Unternehmer und betreiben in Caruaru im Hinterland der Küstenstadt Recife ein Geschäft. Als es um seine Berufswahl ging, war für ihn eines völlig klar: Er wollte etwas ganz anderes machen als seine Eltern. Deshalb entschied er sich anstatt für die Wirtschaft für die Wissenschaft und begann Biomedical Sciences zu studieren. Allein, das Studium wollte nicht in die Gänge kommen, die Materie war Leal zu abgehoben und zu weit entfernt von den eigenen Interessen. Der Funken zündete erst, als er sich mit Parasitologie zu beschäftigen begann. Parasitische Krankheiten, etwa Wurmerkrankungen, sind in Brasilien vor allem im ärmeren Teil der Bevölkerung weit verbreitet.
Das beschäftigte den Jung-Wissenschaftler. Hier sah er eine Chance, mit seiner Forschung gesellschaftlich etwas zu bewirken. Er begann, sich intensiv mit der Bilharziose zu beschäftigen, einer weit verbreiteten Wurmerkrankung, die über die Haut übertragen wird und Ekzeme, aber auch Lungenprobleme verursacht. Anlässlich seiner Masterarbeit, die er an der Oswaldo Cruz Foundation schrieb, dem grössten Institut für Public-Health-Forschung in Südamerika, entwickelte er eine digitale Plattform, die es erlaubte, die lokale Entwicklung der Krankheit in Echtzeit zu Verfolgen und so gezielte Interventionen zu ermöglichen. Unterstützt wurde er dabei von seinem Betreuer Jones Albuquerque, einem Computerwissenschaftler, der heute auch sein Geschäftspartner ist.
Denn das Projekt war so erfolgreich, dass Leal und Albuquerque 2013 aus ihrer Idee ein Geschäft machten und eine Startup-Firma gründeten – Epitrack. Und so wurde aus Onicio Leal, was er nie werden wollte: ein Unternehmer. Das Glück spielte den Firmengründern in die Hände. Ein Jahr später fand in Brasilien die Fussball-WM statt, eine gigantische Veranstaltung, zu der Menschen aus der ganzen Welt anreisten. Nicht nur für deren Unterhaltung, sondern auch für deren Gesundheit sollte gesorgt sein. Das war die Chance für Epitrack, denn während der WM könnten Infektionskrankheiten wie die Masern und das Denguefieber ausbrechen oder Atemwegserkrankungen grassieren.
Epitrack wurde deshalb, unterstützt vom brasilianischen Gesundheitsministerium, beauftragt, mehr und bessere Informationen zu allfälligen Krankheitsausbrüchen bereitzustellen. Die Firma hatte ihren ersten Kunden. «Das war ein grosser Glücksfall für uns», sagt Onicio Leal, «wir konnten ohne Anschubfinanzierung gleich loslegen.» Die Wissenschaftler des Startups setzten dabei auf die Methode der teilnehmenden Krankheitsüberwachung – Besucher der Fussball-WM meldeten über eine App Symptome, die dann bestimmten Krankheitsgruppen zugeordnet werden konnten und den Veranstaltern ein Bild möglicher Krankheitsherde gaben.
Nach diesem verheissungsvollen Auftakt geriet der Motor der Firma ins Stottern: Um finanziell den Kopf über Wasser zu behalten, mussten sich die Epitrack-Gründer statt mit innovativen Projekten zunehmend mit Beratung und Datenanalyse für Krankenversicherer beschäftigen. «Das interessierte mich zu wenig», sagt Onicio Leal. Deshalb entschied er, sich wieder mehr der Wissenschaft zu widmen. Er bewarb sich für eine Postdoc-Stelle an der UZH, wurde akzeptiert und wagte zusammen mit seiner Frau den Sprung über den Atlantik. Seither forscht er am Center for Child Well-Being, das der UZH-Ökonom und Professor Guilherme Lichand ins Leben gerufen hat – auch er stammt aus Brasilien und ist wie Onicio Leal ein Social Enterpreneur und Startup-Gründer.
Gemeinsam ist den beiden Wissenschaftlern, dass sie mit ihrer Forschung in der Gesellschaft etwas bewegen wollen. Ziel ihres Projekts ist, Kindern im südafrikanischen Malawi ein besseres und gesünderes Aufwachsen zu ermöglichen. Das interdisziplinäre Projekt verbindet Ansätze der Verhaltensökonomie mit solchen der Public Health-Forschung und setzt auf neueste digitale Technologie – ein Gebiet also, in dem Onicio Leal bereits eine breite wissenschaftliche und praktische Erfahrung hat. «Wir sammeln mit Wearables, das sind tragbare digitale Detektoren, biologische Informationen, die uns über die Gesundheit und Entwicklung einer grossen Zahl von Kindern Auskunft geben», sagt Leal. Diese Daten sollen auf Probleme hinweisen und es NGOs und Regierungen erlauben, die Wirksamkeit von Interventionen schnell zu überprüfen. Gleichzeitig könnten die Informationen als Frühwarnsystem dienen, mit dem mögliche Epidemien prognostiziert und so verhindert werden können.
Mittlerweile hat Epitrack übrigens in der Schweiz Fuss gefasst. In einem Projekt des Kantonsspitals St. Gallen untersucht Onicio Leals Startup bei Mitarbeitenden die Entwicklung von Krankheitssymptomen und Gesundheitsproblemen im Zusammenhang mit Covid-19. In Zukunft möchte sich der umtriebige Forscher aber vor allem auf seine wissenschaftliche Karriere konzentrieren. Er strebt eine Assistenzprofessur an. Seine Motivation: «Ich möchte meine Begeisterung für die Wissenschaft an Studierende weitergeben und sie dazu ermuntern, auch als soziale Unternehmer tätig zu werden.» Leal ist zuversichtlich, dass er sein Ziel erreichen wird: «I’m playing hard», sagt er und lacht.