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Sie liebt es, im «prallen Leben zu stehen». Tatsächlich dreht sich Brigitte Leeners’ Berufsalltag um grosse Lebensthemen – um Kinder, Familie und Geburt und um Verzweiflung und vor allem um Hoffnung, wenn der Kindersegen ungewollt ausbleibt. Leeners ist Direktorin des Kinderwunschzentrums des Universitätsspitals und Medizinprofessorin an der UZH. In ihren Büros an der Frauenklinikstrasse 10 empfangen sie und ihre Mitarbeiterinnen Paare aus der ganzen Schweiz und aus ganz unterschiedlichen Kulturen. Gemeinsam ist ihnen der unerfüllte Kinderwunsch. «Bei uns geht es um existenzielle Träume», sagt Brigitte Leeners. Um sich diesen Traum zu erfüllen, haben die Paare oft schon viel durchgemacht. Funktioniert es nicht mit dem Kindermachen, kann das zu erheblichem Stress führen. Weshalb klappt es nicht und wer ist schuld daran? Solche Fragen können an einer Beziehung nagen. Der Entscheid, sich Hilfe bei der Reproduktionsmedizin zu holen, ist für viele Paare oft die letzte Hoffnung, dass der Traum vom eigenen Kind doch noch in Erfüllung geht.
Medizinische Gründe für das Ausbleiben des Kindersegens gibt es viele: etwa fehlende oder beschädigte Eileiter, hormonell bedingte Störungen der Eizellreifung, zu wenige oder zu wenig bewegliche Spermien. Ungewollte Kinderlosigkeit wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO seit 1967 als Krankheit anerkannt. Heute weiss man, dass es genauso häufig am Mann wie an der Frau liegt, wenn es mit dem Kinderkriegen nicht klappt. Das war nicht immer so. «Früher war man der Meinung, dass bei Fertilitätsproblemen meistens die Frauen schuld sind», sagt Brigitte Leeners Vorgänger Bruno Imthurn, «sie wurden dann zuweilen zur Wasserkur geschickt, um zeugungsfähig zu werden.» Oft hat es dann geklappt mit der Schwangerschaft. Der Grund dafür war jedoch nicht die verordnete Kur, sondern ein Stelldichein mit einem «Kurschatten». «Heterologe Insemination nennt man das in der Medizin», sagt Bruno Imthurn.
Imthurn hat die Reproduktionsmedizin in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten massgeblich geprägt und weiterentwickelt. Unter seiner Leitung sind am Kinderwunschzentrum des USZ mehrere tausend Babys geboren worden, seit diesem Sommer ist er nun emeritiert.
Ein folgenreiches Jahr für die Entwicklung der Fortpflanzungsmedizin war 1978. Damals gelang britischen Forschern erstmals die künstliche Befruchtung im Reagenzglas. Mit Louise Brown wurde das erste Retortenbaby geboren. Das Ereignis wurde als wissenschaftlicher Durchbruch weltweit gefeiert und hat die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin tiefgreifend verändert. Zuvor setzte man vor allem auf Hormontherapien, um die Fertilität zu erhöhen – mit eher bescheidenem Erfolg. Mit der In-vitro-Fertilisation eröffneten sich dagegen ganz neue Perspektiven, mittels moderner Techniken Kinder zu zeugen und so Paaren den Kinderwunsch zu erfüllen, die sonst auf Nachwuchs verzichten müssten.
Wie bei vielen wissenschaftlichen und technischen Neuerungen wurden auch bei der Geburt von Louise Brown vor über vierzig Jahren kritische Stimmen laut. «Ein Schritt in Richtung Homunkulus» titelte etwa das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel», und der damalige Erzbischof von Canterbury sah in einem Artikel, den er in der päpstlichen Zeitung «Osservatore Romano» veröffentlichte, sogar den Teufel am Werk. Für die katholische Kirche ist die Reproduktionsmedizin auch heute noch ein rotes Tuch. Louise Brown dagegen hat in den letzten gut vierzig Jahren ein – abgesehen vom Medienrummel bei ihrer Geburt – ganz normales Leben führen können. Sie ist Mutter zweier Kinder und arbeitet als Büroangestellte im britischen Bristol. Mittlerweile wurden Tausende Kinder im Reagenzglas gezeugt. In-vitro-Fertilisationen sind heute nichts Aussergewöhnliches mehr. In der Schweiz kommen pro Jahr rund 2000 Kinder auf diesem Weg zur Welt.
In den letzten vierzig Jahren wurden die Verfahren der In-vitro-Fertilisation auch durch die Forschung von Brigitte Leeners und Bruno Imthurn laufend verbessert. «Wir können die einzelnen Schritte einer künstlichen Befruchtung immer präziser durchführen», sagt Imthurn. Dadurch ist die Chance auf eine erfolgreiche Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes – Imthurn nennt das die Take-
the-Baby-home-Quote – von anfänglich 10 auf heute 70 Prozent gestiegen. Gut zwei Drittel aller Paare, die sich am Universitätsspital einer Behandlung unterziehen, verlassen es anders gesagt zu dritt – oder zu viert. Denn die Wahrscheinlichkeit von Zwillingsgeburten ist bei einer In-vitro-Fertilisation auch heute noch leicht erhöht. Mehrlinge kommen aber lange nicht mehr so häufig vor wie in der Frühzeit der Technik. Auch da haben Forschung und Medizin Fortschritte gemacht.
Eine Garantie für den Kindersegen gibt es aber trotzdem nicht. «Wir haben heute viele Möglichkeiten, Paaren zu Kindern zu verhelfen», sagt Bruno Imthurn, «ob es letztlich klappt, bleibt offen, der Beginn des Lebens ist und bleibt ein Wunder.» Auf dieses Wunder hoffen die Paare, die zur Erstkonsultation in Brigitte Leeners’ Büro sitzen. Die Stärke des Kinderwunschzentrums am USZ sei die individuelle Beratung, sagt die Ärztin, «Denn es geht ja eben um individuelle Träume und Ziele. Deshalb wollen wir den richtigen Weg für jedes einzelne Paar finden.»
Zu Beginn einer Behandlung wird zuerst untersucht, weshalb es bislang kein Kind gegeben hat. Das hat meist biologische Gründe und steht nur selten im Zusammenhang mit übermässigem Stress oder psychischen Problemen. Die medizinische Abklärung ist aber nur die eine Seite der Medaille, auf der anderen stehen soziale und psychologische Fragen. «Wir haben einen ganzheitlichen Ansatz», sagt Leeners, die auch psychotherapeutisch ausgebildet ist. In der Beratung muss sie auch prüfen, ob ein Paar die Elternrolle überhaupt wahrnehmen kann und ob die Beziehung stabil ist. «Klappt die Behandlung, sollten Eltern ja mindestens bis zum 18. Lebensjahr für ein Kind sorgen und für es da sein», sagt Leeners.
Bei einigen wenigen Paaren ist dies aus sozialen und gesundheitlichen Gründen schwierig. Etwa wenn sie mit Alkohol- oder Drogenproblemen kämpfen. Oder wenn mit Gewalt in der Beziehung zu rechnen ist. Im Zweifelsfall klären die Reproduktionsmedizinerinnen deshalb Risikofaktoren ab und suchen gemeinsam mit weiteren Spezialisten nach Lösungen. Vorgekommen sei auch schon, dass eine Frau dreimal hintereinander in die Sprechstunde kam – jedes Mal mit einem neuen Partner, erzählt Brigitte Leeners – kein Hinweis auf stabile Verhältnisse für eine Familiengründung. Auch gesundheitliche Probleme können den Kinderwunsch ernsthaft in Frage stellen. Etwa wenn eine schwere Krankheit wie Multiple Sklerose vorliegt oder die Frau an Herzproblemen kombiniert mit weiteren Erkrankungen leidet. Dies könnte während einer Schwangerschaft, die den Körper sowieso schon belastet, lebensgefährlich werden. Deshalb muss die Entscheidung für eine Schwangerschaft sorgfältig geprüft werden. Um kritische Konstellationen zu analysieren, berät sich ein Team von Ärzten, Pflegenden, Embryologen, Psychologen und Ethikern. Sie entscheiden letztlich, ob eine Kinderwunschbehandlung zu verantworten ist. «In seltenen Fällen kommt es vor, dass wir ein Paar ablehnen müssen», sagt Leeners. Im Vordergrund steht dabei das Wohl des Kindes. Das gilt auch für ältere Paare, die mit Hilfe der Reproduktionsmedizin spät zu Nachwuchs kommen möchten. Mit 60 noch Eltern zu werden, sei mit hohen Risiken verbunden, sagt die Ärztin, und auch aus Sicht der Kinder äusserst fragwürdig. Hier müsse man angemessen und konstruktiv entscheiden.
Ist der Entscheid für eine Behandlung gefallen, erwartet die Paare oft ein längerer Weg zum Kinderglück. Eine In-vitro-Fertilisation ist für die Frau aufwändiger als für den Mann. Das kann bei den Männern Schuldgefühle wecken – vor allem, wenn sie der Grund für die Fertilitätsprobleme sind. Nach einer Hormonbehandlung, die das Wachstum und die Reifung der Eizellen fördern soll, werden im Operationssaal in einem rund fünfzehnminütigen Eingriff Eizellen entnommen. Mit einer feinen Hohlnadel werden diese zusammen mit der Follikelflüssigkeit aus den Eierstöcken abgesaugt.
Im Labor werden die Eizellen dann mit zuvor aussortierten beweglichen Spermien befruchtet und bis zu fünf Tage im Brutschrank kultiviert. Danach werden ein, seltener zwei Embryonen in die Gebärmutter übertragen und das Hoffen beginnt. «Die Chance, dass sich bei einem Zyklus eine Schwangerschaft einstellt, liegt bei 35 bis 40 Prozent», sagt Brigitte Leeners. Klappt es nicht, wird der Prozess wiederholt. Da die gewonnenen Eizellen eingefroren werden können, ist die körperliche Belastung für die Frau bei den folgenden Zyklen weniger gross als bei der anfänglichen Gewinnung der Eizellen. Stellt sich nach dem dritten Versuch kein Erfolg ein, entscheiden die Beteiligten, wie weiter vorgegangen werden soll, oder sie brechen die Behandlung ab.
Eine In-vitro-Fertilisation ist eine Achterbahn der Gefühle zwischen Hoffnung, Ungewissheit, Verzweiflung, Enttäuschung und eben manchmal auch Schuld. Das kann eine Beziehung arg unter Druck setzen. «Um dies alles durchzustehen, ist es wichtig, dass die künstliche Befruchtung für ein Paar ein Wir-Projekt ist», sagt der Paar- und Familienpsychologe Guy Bodenmann, «sie müssen von diesem Weg gleichermassen überzeugt sein und ihn zusammen gehen, das erhöht die Erfolgschancen.» Das Commitment beider Partner vermag den Stress abzufedern. Und vielleicht stehen am Ende Glück und Freude über den langerwarteten Nachwuchs. Die Chance, dieses Ziel mit Hilfe der Reproduktionsmedizin zu erreichen, war noch nie so gross wie heute.
Dennoch kommt es bei rund einem Drittel der behandelten Paare nicht zu einer Schwangerschaft. Sie müssen sich endgültig vom langgehegten Kinderwunsch verabschieden. «Das ist oft kein leichter Schritt», sagt Arzt Bruno Imthurn. Für Guy Bodenmann braucht es dazu Demut, auch wenn man das heute nicht mehr so gern höre. Die vermeintliche Machbarkeit gehe mit hohen Erwartungen einher, doch letztlich bleibe ein Kind ein Geschenk der Natur, sagt der Psychologe. Partnerschaften kann man nicht planen und auch der Kinderwunsch geht trotz aller Mittel der medizinischen Kunst nicht immer in Erfüllung. «Es ist einfacher, sich damit abzufinden, wenn sich die beiden Partner darin gegenseitig unterstützen», sagt der Psychologe.