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Leonhard Held, Sie sind Biostatistiker, Sie, Huldrych Günthard, Infektiologe – wie hat Covid-19 Ihren Arbeitsalltag beeinflusst?
Huldrych Günthard: Es hat meinen Alltag völlig durcheinandergebracht. Als Leitender Arzt der Infektiologie am Universitätsspital wurde ich vom neuen Virus gewissermassen überrollt. Wir haben sehr viele Patientinnen und Patienten mit schweren Verläufen betreut. Für meine HIV-Forschung hatte ich da kaum mehr Zeit. Wir haben aber ein eigenes Covid-Forschungsprojekt gestartet, das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wird. Hinzu kamen viele Medienanfragen. So etwas habe ich noch nie erlebt: Der Bedarf an Information ist enorm. Bei uns ist speziell, dass meine Frau, Alexandra Trkola, das Institut für Medizinische Virologie der UZH leitet. Die Belastung von uns beiden ist schon sehr gross (lacht). Sie im Labor, ich in der Klinik – bei uns dreht sich alles nur noch um Corona.
Haben Sie selber auch Patienten behandelt?
Günthard: Ja, ich habe mich entschieden, mich voll in der Klinik zu engagieren. Und wir haben verschiedene Studien gemacht, bei denen es darum ging, die Behandlung von Covid-Infektionen zu verbessern. Ich habe zwei- bis dreihundert Covid-Patientinnen und -Patienten gesehen und kenne diese Krankheit jetzt sehr gut.
Herr Held, wie hat Sie Covid-19 beschäftigt?
Leohnhard Held: Ich bin nicht klinisch tätig wie Huldrych Günthard und habe grössten Respekt davor, dass er neben der Klinik auch noch forscht in dieser Zeit. Eines meiner Forschungsgebiete sind statistische Methoden in der Infektionsepidemiologie. In einem vom Nationalfonds finanzierten Projekt analysieren wir, was Massnahmen wie Schul- oder Grenzschliessungen bringen. Zum anderen habe ich für die Gesundheitsdirektion Zürich Prognosen zur Auslastung der Spitäler erstellt und wissenschaftliche Publikationen zu Covid qualitativ bewertet.
Die Pandemie hat die Forschung unheimlich angeheizt. Es gab eine Flut von Publikationen. Was sind die Folgen dieser Publikationsflut?
Held: Kollegen sprechen von einem Tsunami oder einer zweiten Epidemie, der Preprint-Epidemie. Zu Covid-19 gibt es mittlerweile Zehntausende solcher Preprints – das sind Vorabpublikationen zu Forschungsergebnissen, die veröffentlicht werden, bevor sie von einer wissenschaftlichen Zeitschrift überprüft worden sind. Deshalb variiert die wissenschaftliche Qualität sehr stark. Es gibt sehr gute Preprints, die nützlich und wichtig sind, etwa zur Entwicklung von Impfstoffen. In diesem Zusammenhang war es wichtig, dass sie sehr schnell publiziert wurden und nicht einen langen Überprüfungsprozess durchlaufen mussten. Gleichzeitig gab es aber auch viele qualitativ schlechte Vorabpublikationen, die manchmal sogar zurückgezogen werden mussten.
Wie findet man sich denn zurecht in dieser unüberschaubaren Menge wissenschaftlicher Information? Wer sorgt für Ordnung und entscheidet, was gut und nützlich ist und was nicht?
Held: Ich weiss nicht, ob es da viel Ordnung gibt (lacht). Jeder und jede kann einen Preprint online veröffentlichen. Oft gibt es darauf keine oder wenig Reaktionen, ausser jemand hat einen grossen Namen, dann wird darüber eifrig diskutiert.
Was ist denn der Nutzen dieser Vorabpublikationen, wenn die Qualität so unterschiedlich beziehungsweise oft auch ungenügend ist – bringt das überhaupt etwas bei der Bekämpfung der Pandemie?
Günthard: Ich habe da zwei Seelen in meiner Brust: Wenn die Qualität der Vorabpublikation gut ist, dann ist es super, weil wir wichtige Informationen schnell erhalten und diese in der Klinik einsetzen können bei der Behandlung der Kranken. Wenn die Qualität schlecht ist, dann bringt es natürlich nichts. Ich selber orientiere mich an bekannten Namen, denen man vertraut, um mich in diesem Preprint-Dschungel zurechtzufinden. Was ich problematisch finde: Heute ist es gängig, dass Forschende per Medienmitteilung auf einen Preprint hinweisen. Früher machte man das, wenn eine erstklassige Wissenschaftszeitschrift einen Artikel publizierte. Jetzt posaunt man schon die Vorabpublikation in die Welt hinaus, um Publicity zu bekommen und Geld für die Forschung. Damit habe ich Mühe. Trotzdem kann eine solche Veröffentlichung manchmal Sinn machen, wenn beispielsweise eine neue diagnostische Methode entwickelt wurde und SARS-CoV-2 so einfacher nachgewiesen werden kann. Ein Beispiel dafür ist unsere breitangelegte Speichelstudie, mit der wir zeigen konnten, dass sich Speichel-basierte Corona-Tests gut eignen, um grosse Gruppen auf das Virus zu screenen. Das hat dazu geführt, dass mit dieser Methode heute im grossen Stil Schülerinnen und Schüler auf Corona getestet werden.
Sie, Herr Held, haben in einem Aufsatz festgestellt, dass viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Beiträge vorab veröffentlichen, die in keiner Weise den Standards entsprechen. Weshalb ist das so?
Held: Das Problem ist, dass viele Autorinnen und Autoren diese Publikationsstandards nicht kennen oder sich nicht daran halten. Beispielsweise gibt es etablierte Richtlinien, wie man Prognosemodelle darstellt. Mit solchen Modellen lässt sich beispielsweise die Entwicklung einer Infektion besser abschätzen. Doch offenbar kümmern sich viele nicht um solche durchaus nützlichen Richtlinien und publizieren deshalb mangelhafte Vorabbeiträge.
Schauen wir uns ein konkretes Beispiel an: Können wir uns auf Grund aktueller Studien auf die Impfstoffe gegen Covid-19 verlassen?
Günthard: Es hat mich zutiefst beeindruckt, wie schnell die neuen Impfstoffe entwickelt wurden. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Einerseits, dass man in so kurzer Zeit fähig war, überhaupt Impfstoffe zu entwickeln und andererseits mit den klinischen Studien zu ihrer Wirkung und den allfälligen Nebenwirkungen so schnell voranzukommen. Bezüglich der Wirksamkeit der Impfstoffe haben wir recht verlässliche Daten. Was natürlich fehlt, sind Langzeitstudien. Bezüglich der mRNA-Impfungen war ich selbst am Anfang kritisch. Das ist ein neues Verfahren, zu dem es keine grossen Studien gibt. Ich habe dann aber erfahren, dass es durchaus Langzeituntersuchungen zur Behandlung von Krebspatienten mit mRNA-basierten Therapien gibt. Man hat damit mehr Erfahrung, als mir anfänglich bekannt war. Deshalb lautet meine Antwort auf die Frage: Ja, wir können uns auf die vorhandenen Impfstoffe verlassen.
Held: Seit ein paar Jahren gibt es bei den amerikanischen, aber auch bei den europäischen Behörden beschleunigte Verfahren, die an bestimmte Bedingungen geknüpft sind, um in Situationen, in denen ganz dringender Bedarf besteht, einen Wirkstoff schnell zuzulassen. Sie beruhen dann nur auf einer Studie, sind dafür aber auch nur bedingt gültig. Das trifft für alle aktuellen Zulassungen von Covid-19-Impfstoffen zu. Das heisst, beispielsweise die Frage, ob es zu Nebenwirkungen kommt oder ob die Impfstoffe nur bei bestimmten Altersgruppen wirken, wird weiter untersucht. Bei der Zulassung von Corona-Impfstoffen sind die Behörden sehr flexibel. Deshalb sind wir nun in der glücklichen Situation, verschiedene Impfungen einsetzen zu können.
Das ist vertretbar – auch punkto Verlässlichkeit der Impfstoffe?
Held: Ja, das ist sinnvoll, wenn medizinische Interventionen so dringend sind wie zurzeit. Die Evidenz, die man aus den einzelnen Studien hat, ist schon ziemlich gut. Es ist bemerkenswert, wie gut diese Impfungen mit einer Wirksamkeit von 90 bis 95 Prozent sind, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es für andere Infektionskrankheiten wie etwa HIV immer noch keine Impfstoffe gibt.
Günthard: Die Zulassungsbehörden haben meiner Meinung nach einen sehr guten Job gemacht. Sie waren überhaupt nicht dogmatisch. Die Zulassung war und ist ein rollender Prozess. Das war entscheidend dafür, dass sie kurz nach dem Abschluss der Studien schon die Zulassung geben konnten. Viele Behörden haben in der Pandemie enorm Gas gegeben – Swissmedic, Ethikkommissionen, Spitaldirektionen. So etwas habe ich noch nie erlebt. Plötzlich dauern Prozesse, die sonst zwei Monate in Anspruch nehmen, nur noch zwei Wochen. Und trotzdem wurde nicht gepfuscht. Das zeigt, wenn man sich gut organisiert, könnten solche Prozesse auch unter normalen Umständen schneller ablaufen.
Welche Lehren lassen sich punkto Forschungsqualität aus der bisherigen Pandemie ziehen?
Held: Wie sich gezeigt hat, funktioniert das aktuelle Bewertungssystem für die Qualität von Forschung in so einer Notsituation nicht so gut. Ein Beispiel dafür ist die Peer Review, also die Beurteilung von wissenschaftlichen Arbeiten durch unabhängige Gutachter. Ich habe selbst festgestellt, dass es zunehmend schwierig ist, Gutachter zu finden, weil alle mit anderem beschäftigt sind und nicht mehr die Zeit haben, noch seriös Artikel zu beurteilen. Das Peer-Review-Modell muss deshalb auf den Prüfstand. Ein Problem ist, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute vor allem daran gemessen werden, was sie publizieren. Ob sie sich als Peer Reviewer engagiert haben, interessiert dagegen wenig. Wir müssen diese Tätigkeit deshalb attraktiver machen, indem wir sie höher bewerten und gewichten, damit in einer solchen Lage die Begutachtung und damit auch die Qualitätskontrolle schneller gehen kann.
Ein anderer Vorschlag zur Qualitätssicherung ist, ein Forschungsvorhaben zu begutachten, bevor man mit der Forschung überhaupt beginnt. Was bringt das?
Held: Das ist eine neue Idee, die ursprünglich aus den Sozialwissenschaften kommt und in der Psychologie schon recht beliebt ist. Man schreibt ein Protokoll eines Forschungsvorhabens und lässt dieses begutachten. Das machen mehr und mehr Journals. Sie verpflichten sich dann, die späteren Ergebnisse zu veröffentlichen. Vorausgesetzt natürlich, die erste Begutachtung war positiv. Ein Vorteil dieses Modells: Es werden vermehrt auch negative Befunde publiziert. Das geschieht im traditionellen Review-Modell eher selten. Der Haken daran: Man hat eine zeitliche Verzögerung, weil das Protokoll ja eben zuerst begutachtet werden muss. Das ist in einer Pandemie vielleicht nicht besonders hilfreich, aber die forscherische Qualität ist am Ende sicher höher.
Günthard: Das stimmt. Gleichzeitig ist verrückt, wie wir alles reglementieren wollen. Gerade bei explorativen Studien, in denen es nicht um die Entwicklung von Medikamenten geht, müssen wir darauf achten, dass die Prozesse nicht völlig ineffizient werden und niemand mehr Freude an der Forschung hat.
Herr Held, Sie leiten das Center for Reproducible Science an der UZH. Wie kann das Kompetenzzentrum zur Qualitätsverbesserung in der Forschung beitragen?
Held: Wir bieten regelmässig Kurse in guter Forschungspraxis für Forschende, PhD- oder PostDoc-Studierende. Wir geben damit die Grundlagen für gute Forschung weiter. Die Interdisziplinärität des Zentrums ermöglicht zudem den Austausch von verschiedenen Ansätzen und Forschungsmethoden zur Qualitätssicherung.
Die Pandemie wird von Forschenden in den Medien teilweise kontrovers diskutiert. Da entstehen manchmal verwirrende Widersprüche. Schwindet angesichts solcher Unstimmigkeiten das Vertrauen in die Wissenschaft?
Günthard: Ich glaube nicht, dass ein Vertrauensverlust stattgefunden hat. Die Wissenschaft hat – trotz negativer Beispiele, die es auch gibt – einen super Job gemacht in der Pandemie weltweit. Ich fand auch den medialen Diskurs gut. Wissenschaftliche Fragen wurden selten so engagiert und intensiv in der Öffentlichkeit diskutiert. Und das auf einem hohen Niveau. Das finde ich positiv. Gefährlich ist dagegen, wenn man sich als Experte dazu hinreissen lässt, Dinge zu sagen, die man nicht sicher weiss. Zu sagen, man wisse etwas noch nicht, wird von den Medien schnell als langweilig taxiert. Das sollte Forschende nicht dazu verleiten, vermeintliches Wissen zu präsentieren, für das die Daten fehlen.
Held: Ich sehe das auch so. Das Problem war, dass die Unsicherheiten, die bei wissenschaftlichen Erkenntnissen (immer) bestehen, teilweise nicht mehr kommuniziert wurden. Man weiss auch heute vieles im Zusammenhang mit Covid-19 nicht, das sollten Forschende in ihren Statements auch deutlich machen.
Versteht das das Publikum?
Held: Es ist ein grosses Problem und ein grosse Herausforderung, diesen Umstand verständlich zu machen. Daran müssen wir Wissenschaftler vielleicht noch etwas arbeiten. Zur Frage des Vertrauensverlusts wurden übrigens Studien durchgeführt. Sie haben gezeigt, dass das Vertrauen in die Wissenschaft in der Öffentlichkeit im Zug der Pandemie nicht gesunken, sondern gestiegen ist.
Günthard: Vertrauensprobleme haben zurzeit wohl vor allem die Politiker. Aber auch die Wissenschaft ist natürlich nicht perfekt – niemand ist perfekt.
Günthard: Ich denke gestärkt. Nochmals: Die Leistung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und Herstellern bei der Entwicklung von Impfstoffen war grossartig – das betrifft sowohl die Qualität als auch das Tempo, das vorgelegt wurde.
Held: Ich kann dem nur beipflichten. Das gilt übrigens auch für klinische Therapiestudien wie beispielsweise die Recovery-Studie, die von der Oxford University geleitet wird. Sie hat schon ganz wertvolle Erkenntnisse darüber gebracht, welche Covid-Therapien nützen und welche nicht. Das ist ein tolles Beispiel dafür, wie gut in dieser Zeit Wissenschaft betrieben werden kann.