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Die Warnsignale kamen mit der zweiten Corona-Welle. Es war Winter, Herr und Frau Schweizer sassen im Home Office, und kaum jemand tat mehr einen Schritt vor die Haustür. «Immer mehr unserer übergewichtigen Patientinnen und Patienten klagten, sie hätten Mühe, ihren Tagesrhythmus zu finden, sich fit zu halten, die mühsam erarbeitete Diät durchzuziehen», sagt Philipp Gerber. Gerber ist Privatdozent an der UZH, Arzt an der Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung und klinischer Leiter des Adipositas-Zentrums am Universitätsspitals Zürich.
Die Anlaufstelle für Menschen mit Gewichtsproblemen existiert seit drei Jahren. Sie ist kein Luxus. Denn über vierzig Prozent der erwachsenen Schweizerinnen und Schweizer gelten aus medizinischer Sicht als übergewichtig (BMI >25), zehn bis zwölf Prozent gar als adipös (BMI >30). Ihr Problem ist nicht nur das Körpergewicht an sich, sondern vielmehr die damit verbundenen Folgeerscheinungen wie etwa Kreislauf- oder Stoffwechselerkrankungen. Das Adipositas-Zentrum des USZ vereint deshalb ein bunt gemischtes interdisziplinäres Team, von der Ernährungsberaterin über den Viszeralchirurgen bis hin zur Psychiaterin. Sie alle haben mit der Pandemie noch mehr zu tun bekommen als sonst. «Wir sahen Tag für Tag Patientinnen und Patienten, die ihr Gewichtsproblem trotz therapeutischen Massnahmen nicht mehr richtig in den Griff bekamen», sagt Philipp Gerber. «Da war der Wurm drin, und wir wollten der Sache auf den Grund gehen. Vor allem auch deshalb, weil ja niemand weiss, wie lange diese Pandemie noch dauert.»
Gerber und seine Kollegen am USZ haben das Problem nicht als Einzige erkannt. Aus mehreren Ländern liegen inzwischen Studien zu den Zusammenhängen von Corona und Übergewicht vor. Sie basieren zumeist auf repräsentativen Umfragen und Tests. Ihre Ergebnisse sind zum Teil widersprüchlich. Einige Untersuchungen kommen zum Schluss, Lockdown und Home Office hätten zu ungesunder und undisziplinierter Ernährung geführt, was ganz klar negative Folgen habe. Andere stellen einen Trend fest hin zu mehr selbstgekochten Mahlzeiten und weniger Fast Food, beurteilen das pandemiebedingte Essverhalten also teilweise auch positiv. Was stimmt denn nun?
«Die Resultate sind nicht zwingend ein Widerspruch», sagt Gerber, der sich eingehend mit der Materie befasst hat. Die Erfahrung zeige, dass Menschen punkto Essverhalten sehr individuell auf Ausnahmesituationen reagierten. «Wer sich vorher schon bewusst ernährt hat, ernährt sich jetzt noch bewusster. Wer punkto Essen schon vorher Probleme hatte, hat jetzt noch mehr Schwierigkeiten.» Vorbelasteten Menschen kann das Home Office zum Verhängnis werden: Der Kühlschrank steht gleich um die Ecke, die Schale mit den Snacks für zwischendurch ist auch nicht fern. Kein Wunder, meldeten die Schweizer Grossverteiler schon während der ersten Corona-Welle einen erhöhten Umsatz an Süssgebäck.
Adipositas beginnt bei den Genen und endet bei den Essgewohnheiten. Betroffene Menschen, so Gerber, belohnten sich beispielsweise oft mit Snacks. In Stresssituationen nehme das Bedürfnis nach Selbstbelohnung zu, mithin auch die Nascherei. Und Corona hat in der Tat mehr Angst und Anspannung gebracht: «Einige meiner Patientinnen und Patienten geben offen zu, dass Home Office, die erschwerte Situation mit der Familie zuhause, die Ungewissheit über den weiteren Verlauf der Pandemie, die existenzielle Angst und der Mangel an sozialen Kontakten sie sehr stark belasten», sagt Gerber. Zum Stress hinzu kommt der Bewegungsmangel. Wer bei der Arbeit in normalen Zeiten Kunden besuchte, Treppen stieg, um sich mit Kollegen in anderen Büros zu beraten, oder am Mittag zu Fuss zum Restaurant ging, bleibt im Home-Office oft tagelang auf seinem Stuhl sitzen.
Die Fitnessstudios waren geschlossen, der viele Schnee erschwerte im Winter das Joggen und Velofahren. Bei Adipositas-Patienten, so Gerber, beginne unter solchen Umständen oft ein Teufelskreis: «Sie nehmen rasch zu, wollen sich deshalb nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen und haben dadurch erst recht keine Bewegung mehr.» Dabei sind Bewegung und ein kontrolliertes Ernährungsregime neben Medikamenten die wichtigsten Therapieansätze, um vorbelastete Menschen vor zu viel Körpergewicht zu schützen. Philipp Gerber: «Die Pandemie ist für viele Übergewichtige der letzte Zwick an der Geissel, der ihr ohnehin labiles System endgültig zum Einstürzen bringt.»
Wie labil das System tatsächlich ist, hat Philipp Gerber mit einer Studie aufgezeigt, die ihren Anfang schon lange vor Corona nahm. Zusammen mit anderen Forschenden der UZH und des Universitätsspitals Zürich untersuchte er die Auswirkungen von Zucker auf unseren Stoffwechsel. Gegen hundert junge Probanden tranken sieben Wochen lang täglich mit unterschiedlichen Zuckersorten – Fruktose, Glukose oder Saccharose – gesüsste Limonaden. Die Forschenden untersuchten den Effekt der Substanzen und verglichen die gewonnenen Daten mit denen einer Kontrollgruppe, die keine Süssgetränke zu sich nahm.
Fazit der Studie: Es sind nicht nur die gefürchteten Kalorien, die den Zucker gefährlich machen. Verheerend ist vor allem, was zugesetzter Zucker mit der Leber anstellt. Drei Gläser eines handelsüblichen Süssgetränks kurbeln die Fettproduktion derart stark an, dass die Leber selbst dann noch fleissig weiteragiert, wenn wir schon lange mit dem Trinken aufgehört haben. Vier Gläser Limonade entsprechen 80 Gramm Zucker. Gemäss Statistik konsumieren Schweizerinnen und Schweizer täglich 100 Gramm zugesetzten Zucker – abgesehen von Zucker und Kohlenhydraten, die sich naturgemäss in Grundnahrungsmitteln wie Pasta, Brot und Früchten finden und unseren Zuckerbedarf vollauf abdecken.
Eine erhöhte Fettproduktion in der Leber macht nicht nur dick, sie führt auch zu Krankheiten wie Fettleber oder Diabetes. Die Weltgesundheitsorganisation WHO empfiehlt deshalb eine tägliche Zuckerration von maximal 50 Gramm oder noch besser der Hälfte. Eine Flasche Cola oder ein halbes Pack Guetzli liegen somit kaum mehr drin; auch Fertigprodukte sind tabu, da sie fast ausnahmslos zugesetzten Zucker enthalten. «Ursprünglich», so Gerber, «hatte der Zuckergenuss einen positiven Effekt: Die Höhlenbewohner assen im Herbst die reifen Früchte und setzten dank des Fruchtzuckers Fett an für den strengen Winter.» Heute nehmen wir das ganze Jahr hindurch Zucker zu uns, und nicht nur jenen in den Früchten. Auf diese Weise produzieren wir Tag für Tag Fett, das wir gar nicht wirklich brauchen.
Und als wäre das nicht schon genug, kommt nun noch ein Virus hinzu, das Angststress, Bewegungsmangel und unnötige Nascherei fördert. «Für mich sind Übergewicht und Corona gewissermassen zwei Pandemien, die sich gegenseitig hochschaukeln», sagt Philipp Gerber. Das macht ihm ernsthaft Sorgen. Denn so, wie unsere Massnahmen gegen Covid-19 Übergewicht fördern, fördert Übergewicht die Gefährlichkeit des Virus. Je höher der Body-Mass-Index, desto grösser das Risiko eines schweren Corona-Verlaufs. Das hat eine der vielen Studien zur Gefährlichkeit des Virus ergeben. Gleichzeitig haben mit Beginn der Pandemie die Patientenzahlen am Adipositas-Zentrum des USZ deutlich zugenommen, sagt Gerber. Dazu gehörten vermehrt auch Fälle von Adipositas im zweiten (BMI > 35) und dritten Grad (BMI > 40). «Und das», warnt Gerber, «sind alles Hochrisikopatienten.»
Was tun? Wichtig, so Gerber, sei das Bewusstsein dafür, dass die Pandemie eine zusätzliche Gefahr darstelle für all jene, die auch in normaleren Zeiten mit ihrem Gewicht zu kämpfen haben. In der medizinischen Grundversorgung werde Adipositas oft etwas stiefmütterlich behandelt, weil es sich um ein psychologisch heikles Thema handle. «Für uns am Adipositas-Zentrum ist das viel einfacher, weil uns nur Menschen aufsuchen, die ihr Gewichtsproblem erkannt haben und es bekämpfen möchten», sagt Philipp Gerber. Sein Ratschlag an alle, die ernsthafte Gewichtsprobleme haben: «Nicht warten, bis die Pandemie vorbeigeht, sondern möglichst rasch Hilfe holen.»