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In jungen Jahren lässt es sich mit Rückenschmerzen meist recht gut leben. Doch mit zunehmendem Alter kann es zu einem Problem werden: Ein paar Kilo zu viel drücken auf die Wirbel, das stundenlange Sitzen im Berufsalltag verstärkt die Degeneration der Wirbelsäule, die Beweglichkeit nimmt ab, die Rückenschmerzen nehmen zu. Werden dann noch die Nerven gequetscht, hat der oder die Betroffene plötzlich Lähmungserscheinungen in den Beinen. Ist der Leidensdruck einmal so hoch, bleibt als Ausweg aus der Pein oft nur noch eine Wirbelsäulenoperation.
Auf Wirbelsäulenoperationen und den Bewegungsapparat allgemein ist die Universitätsklinik Balgrist spezialisiert. Eingriffe an der Wirbelsäule gelten als heikel, denn kleinste Fehler können gravierende Auswirkungen haben. Trifft ein Chirurg das Rückenmark, wenn er zum Versteifen der Wirbelsäule die Schrauben in den Wirbeln einsetzt, kann das im schlimmsten Fall Querschnittslähmung zur Folge haben. Auch die peripheren Nerven, die zum Rückenmark führen, darf er nicht verletzen.
Halbautonome Operationsroboter
Operationen an der Wirbelsäule werden bis jetzt mehrheitlich mit Unterstützung von intraoperativen Röntgengeräten operiert. Seit kurzem wird an der Universitätsklinik Balgrist auch Augmented Reality eingesetzt, um die Operation sicherer und präziser zu machen. Die derzeit verfügbaren halbautonomen, robotischen Systeme kommen noch nicht regelmässig zum Einsatz, da sie erfahrene Chirurginnen und Chirurgen nur bedingt unterstützen.
Die aktuellen halbautonomen robotischen Systeme werden vor der Operation mit Computertomografie-Aufnahmen der Patientenanatomie «gefüttert» und entwerfen darauf basierend einen «präoperativen Plan». Diesem Plan kann beispielsweise der Eintrittsort und die Richtung der Schraube, die in den Knochen gebohrt werden muss, entnommen werden. Die Computertomografie vermag die Knochenanatomie zwar sehr gut zu visualisieren. Doch für eine erfolgreiche und sichere Operation müssen weitere relevante Faktoren und anatomische Strukturen miteinbezogen werden – was das Konzept der präoperativen Planung nicht leisten kann.
Die bisherigen halbautonomen Operationsroboter schaffen es zwar, die Ausrichtung und Position der Schraube hochpräzise zu bestimmen. Doch sobald im Verlauf einer Operation die visuelle Orientierung anhand der Bilddaten und der präoperativen Planung nicht mehr möglich ist – was oft der Fall ist –, muss der Chirurg wieder übernehmen. Bei schlechter Sicht auf die Anatomie ertastet er die Situation und vertraut auf sein Gehör und seine Erfahrung, wie weit er beim Bohren oder Schneiden gehen kann. In diesem Fall werden die Behandlung und das Operationsergebnis von den subjektiven Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Chirurgen bzw. einer Chirurgin abhängig.
EU-Forschungsprojekt FAROS
Komplexe Wirbelsäulenoperationen können eine hohe Komplikationsrate aufweisen. Nun will ein internationales Forschungsprojekt namens FAROS die heiklen Wirbelsäulenoperationen sicherer machen. Beteiligt sind Universitäten in Belgien, Frankreich, England und die UZH bzw. die Professoren Philipp Fürnstahl, Mazda Farshad und PD Reto Sutter von der Universitätsklinik Balgrist (siehe Kasten).
Der Projektname Functionally Accurate Robotic Surgery (FAROS) verrät, worum es geht: Es soll ein hochautonomer Operationsroboter entwickelt werden, der das funktionelle Behandlungsergebnis maximiert, indem er so multisensorisch operiert wie erfahrene Chirurginnen oder Chirurgen, und zwar bei jedem Eingriff, jederzeit und überall. Dafür erhalten die FAROS-Forschenden von der Europäischen Kommission im Rahmen von Horizon 2020 während drei Jahren knapp 3 Millionen Euro. «Unser Ziel ist es, die Behandlungsqualität bei Wirbelsäulenoperationen zu steigern, indem wir eine höhere Standardisierung der Behandlung erreichen», sagt Philipp Fürnstahl, der das FAROS-Projekt am Balgrist leitet. Er ist Professor für Orthopädische Forschung und Leiter «Research in Orthopedic Computer Science» an der Universitätsklinik Balgrist. «Heute ist es noch so, dass Patienten mit der gleichen Diagnose unterschiedliche Operationsergebnisse haben. Diese Situation ist nicht ideal und soll mit der Entwicklung des FAROS-Operationsroboters objektiviert werden», so Fürnstahl.
Der Operationsroboter von morgen soll nicht nur autonom, hochpräzise und intelligent sein, sondern auch mit zahlreichen nichtvisuellen Sensoren versehen werden. Mithilfe dieser Sensoren wird er bei schlechter Sicht den elektrischen und mechanischen Widerstand messen und daraus schliessen können, in welcher Körperstruktur er sich befindet (Impedanzmessung). Auch Ultraschall wird ihm bei der Ortung helfen: Die Schallwellen werden von den unterschiedlichen Körperstrukturen unterschiedlich reflektiert und lassen so Rückschlüsse zu, ob Wirbel oder Nerven vor einem liegen.
Die Forschenden der Universitätsklinik Balgrist werden Ex-vivo-Experimente durchführen und die präklinische Validierung vornehmen sowie Sensoren und Computermethoden zur Sammlung und Interpretation der akustischen Informationen entwickeln, die bei einer Wirbelsäulenoperation bei schlechter Sicht weiterhelfen. Chirurginnen und Chirurgen hören, ob eine Schraube korrekt in den Knochen eindringt. Das soll FAROS mithilfe der Analyse vibro-akustischer Signale ebenfalls können. Über Kontaktmikrofone, die auf der Haut angebracht werden, wird die Resonanz der Schallwellen im Körper des Patienten gemessen. So kann mit 95-prozentiger Sicherheit vorhergesagt werden, wann der Bohrer aus der harten Knochenschicht in die Weichteile tritt. Und auch den Widerstand, den eine Schraube beim Eindrehen in einen Wirbel hat, soll der Roboter «erfühlen» können.
Die Signale der Sensoren werden dem autonomen Operationsroboter ermöglichen, so gut wie alle Parameter, die es zum Operieren braucht, zu erkennen – etwa den Gewebetyp, die Gewebe- oder Knochenqualität, den Gewebezustand, die Art Körperflüssigkeit, den Grad der Zerstörung oder Beschädigung des Gewebes, die Durchblutung, die Stabilität eines Implantats etc. «Die Vielzahl von Sensoren wird es erlauben, hochpräzise neben lebenswichtigen Strukturen wie dem Rückenmark oder den Nerven operieren zu können», sagt Projektleiter Philipp Fürnstahl.
Dank der Fülle an Sensorinformationen, die mithilfe künstlicher Intelligenz analysiert werden, soll der neuartige Operationsroboter dereinst so autonom und gut wie ein erfahrener Chirurg, eine erfahrene Chirurgin operieren können – und im Laufe der Zeit sogar besser. Dann wird es im Operationssaal bei Hochrisikoeingriffen wohl heissen: FAROS, übernehmen Sie.