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«Wie ein Blitz aus heiterem Himmel»

Was machen Seuchen mit uns? Der Gräzist Christoph Riedweg hat für das Zentrum Altertumswissenschaften Zürich (ZAZH) eine Ringvorlesung mitorganisiert, die dieser Frage nachgeht und dabei Brücken zwischen Antike und Gegenwart schlägt. Im Interview erklärt er, worin er die Parallelen zwischen damals und heute sieht.
Interview: David Werner
«Die Seuche raffte alle dahin.» Christoph Riedweg erzählt von der Epidemie, die vor zweieinhalbtausend Jahren Athen heimsuchte. (Video: Brigitte Blöchlinger)

 

Herr Riedweg, in den Jahren 430 bis 426 wütete in Athen eine verheerende Seuche. Dank des berühmten Berichts, den der griechische Historiker Thukydides darüber geschrieben hat, wissen wir heute vergleichsweise genau darüber Bescheid. Sehen Sie Parallelen zur gegenwärtigen Pandemie? 

Christoph Riedweg: Interessanterweise fällt die Seuche in Athen in eine Zeit tiefgreifender politischer Umwälzungen: Die Boomphase, die auf die existenzbedrohenden Perserkriege folgte und einen spektakulären künstlerischen und intellektuelle Aufschwung mit sich brachte, gelangte 431 mit dem Ausbruch des Peloponnesischen Bruderkrieges an ein Ende. Die zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten führten zu massiver gesellschaftlicher Verunsicherung und ebneten den Weg zu einer immer radikaleren Form der Demokratie, die von Populisten virtuos bespielt wurde. Die vier Jahre dauernde Epidemie markiert im Rückblick den Übergang von der aufgeklärt-paternalistischen Staatslenkung des Perikles zu einer jahrzehntelangen Dominanz mehr oder weniger skrupelloser Volksführer beziehungsweise Volksverführer – das griechische Wort dēmagōgós deckt beide Nuancen ab. Das ist angesichts aktueller politischer Verwerfungen zumindest bemerkenswert.

Hat die Vergleichbarkeit auch Grenzen?

Auf jeden Fall. Geschichte wiederholt sich ja nicht einfach, bestenfalls reimt sie sich, und genau im Hinblick auf solche wiederkehrende Patterns wollte Thukydides allgemein und auch mit seinem präzisen Epidemie-Bericht Verständnishilfen für künftige Generationen bereitstellen. 

Worin liegt der auffälligste Unterschied zwischen damals und heute?

Der auffälligste Unterschied besteht natürlich darin, dass wir heute, ein gutes Jahr nach Ausbruch der Pandemie, dank hervorragender medizinisch-wissenschaftlicher und technisch-industrieller Leistungen an einem Punkt stehen, wo die Beherrschung des Erregers in Sichtweite scheint. Die generelle Stimmungslage hat sich daher im Vergleich zum letzten Frühling, als Konfusion und teilweise panische Angst herrschten, nach meinem subjektiven Eindruck trotz aller politischen Gereiztheit merklich aufgehellt. Die Situation in Athen ist also mutatis mutandis eher mit unserem ersten Lockdown zu vergleichen.

Welchen Einfluss hatte Thukydides auf spätere Seuchenbeschreibungen?

Der thukydeische Bericht gehört mit seiner eindringlichen, regelrecht unter die Haut fahrenden Schilderung der Krankheit und ihrer Folgen für den einzelnen wie auch für die Gesellschaft ohne Zweifel zu den Klassikern. Er hat weit über die kreative Rezeption in der antiken Literatur – mit Lukrez, Vergil und Prokop als Höhepunkten – bis in die Gegenwart nachgewirkt: Die meisten neuzeitlichen Seuchenbeschreibungen, von Daniel Defoe über Alessandro Manzoni bis Albert Camus, haben in der einen oder anderen Form an Thukydides Mass genommen. Der Sogwirkung seiner packenden Darstellung kann sich bis heute kaum jemand entziehen. Dies dokumentieren nicht zuletzt die zahllosen Verweise auf Thukydides im Zusammenhang mit der Coronakrise in den verschiedenen Medien.

Wie tatsachengetreu ist Thukydes’ Beschreibung der Attischen Seuche?

Thukydides ist ein mit allen Wassern der in einem gewissen Sinn mit unserer Postmoderne vergleichbaren Sophistik und Rhetorik gewaschener Schriftsteller und Intellektueller. Auf der einen Seite weiss er um das unhintergehbar Subjektive jeder Art von Ursachenforschung – einem Arzt werden ganz andere Gründe für einen so drastischen Glücksumschwung plausibel erscheinen als einem Laien. Daher nimmt Thukydides, der, wie er sagt, selbst erkrankt war, für sich einzig eine genaue Beschreibung des Verlaufs in Anspruch. 

Andererseits ist seine Seuchen-Erzählung als ganze derart raffiniert aufgebaut und literarisch durchgestaltet, dass sie weit über einen blossen Tatsachenbericht hinausgeht und die Lesenden buchstäblich zum Mitfiebern und Mitdenken verführt.

Thukydides
Sprachgewaltiger Zeitzeuge: Der griechische Historiker Thukydides in einer Mosaik-Darstellung aus dem 3. Jh. nach Christus. (Bild: Pergamon Museum Berlin, Wikimedia)

Wie macht Thukydides das?

Auf eine Vorrede, in der summarisch die absolute Hilflosigkeit der Ärzte sowie die Nutzlosigkeit religiöser Rituale erwähnt und auch die – über die Jahrhunderte hinweg immer wieder variierte – Vermutung einer Brunnenvergiftung durch die Gegner geäussert wird, lässt Thukydides eine ausführliche, geradezu medizinisch anmutende Darlegung der Krankheitssymptome folgen. Er beschreibt, wie die Krankheit vom Kopf her zunehmend den ganzen Körper bis in die äussersten Extremitäten hinein trifft und teilweise auch neurologisch-psychologische Auswirkungen wie zum Beispiel Erinnerungsverlust zeitigt.

Das Ungeheuerliche der jede Beschreibung übersteigenden, unmenschlich brutalen Seuche wird anschliessend durch deren Auswirkungen auf die Tierwelt – ein Vogel oder Hund, der mit den oftmals unbestatteten Leichen in Berührung gerät, wird sogleich weggerafft – sowie auf das Individuum und die menschliche Gemeinschaft ausführlich und emotional aufwühlend illustriert: Ob Kranke vernachlässigt oder intensiv gepflegt wurden, machte nicht den geringsten Unterschied. Wer spürte, dass er erkrankte, fiel sofort in abgrundtiefe Verzweiflung und gab jeden Widerstandsgeist auf, was die Sache nur umso schlimmer machte.

Gab es auch Zeichen der Hoffnung?

Die Menschen, die einander pflegten, starben wie Schafe dahin. Gleichwohl gab es offenbar auch Individuen, die sich aus ethischem Verantwortungsgefühl selbstlos für ihre Freunde aufopferten. Ausserdem erwähnt Thukydides das besondere Mitgefühl und die Zuversicht derjenigen, die die Seuche überstanden hatten und sich daher gegenüber dieser und allen anderen Krankheiten für immer immun fühlten.

Perikles, der erste Mann in Athen, hatte einen genauen Plan, wie Sparta im Peloponnesischen Krieg zu besiegen sei. Dazu gehörte, dass die gesamte Landbevölkerung Attikas in der Hauptstadt Athen zusammengezogen wurde. Das war aus epidemiologischer Sicht keine gute Idee. Welche Auswirkungen hatte die Massnahme?

Sie führte laut Thukydides zu dramatischen Szenen, die entfernt an die Bilder aus Bergamo auf dem ersten Höhepunkt der Covid-19-Krise erinnern: Leichen von Personen, die übereinander gestorben waren, lagen herum, auch Heiligtümer waren angefüllt mit Toten, und überhaupt verlor der für die antike Gesellschaft fundamentale Unterschied zwischen heilig und profan jede Bedeutung. Die früher üblichen Bestattungssitten wurden sträflich vernachlässigt. Ja mehr noch, unter dem Ansturm der Krankheit zerfiel generell jede Form moralischer Rechtschaffenheit: Da die Seuche alle gleichermassen treffen konnte und daher auch der Reichtum je neu verteilt wurde, kam eine regelrechte «après nous le déluge»-Stimmung auf, mit der Folge, dass ein jeder nur noch dem maximalen Lustgewinn für sich selbst hinterherjagte, ohne jede Furcht vor den Göttern oder Rücksicht auf das menschliche Gesetz.

Was zeichnet Thukydides’ Darstellung gegenüber anderen Seuchen-Beschreibungen aus?

Gegenüber den älteren Pestschilderungen bei Homer und Sophokles, aber auch schon im Vorderen Orient und im Alten Testament zeichnet sich Thukydides’ Seuchen-Darstellung nicht zuletzt dadurch aus, dass er bewusst von jeder theologischen Erklärung und der Herleitung der Katastrophe aus einem menschlichen Fehlverhalten absieht. Ja mehr noch: er verzichtet überhaupt auf jede Aitiologie, das heisst, er versucht nicht, die Ereignisse durch ein kausallogisches Narrativ plausibel zu machen. Er begnügt sich mit einer minutiösen Beschreibung des Geschehens, was eine effektvolle literarische Gestaltung natürlich nicht ausschliesst, im Gegenteil.

Das Wort «Katastrophe» entstammt eigentlich der literarischen Sphäre, genauer dem Theater, und ist ähnlich wie der ursprünglich aus der Medizin stammende Terminus «Krise» bis heute in der Dramentheorie wichtig. Prägt dieser Kontext die Art und Weise, wie wir heute Notlagen wahrnehmen und beschreiben?

Ich denke, dass in der modernen Verwendung dieser ursprünglich griechischen Termini, die in der Antike eine Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungsnuancen hatten, der Hauptakzent auf dem urplötzlichen, völlig unverhofften Glücksumschwung liegt. Schon Thukydides betont diesen Aspekt, wenn er der quasi klinischen Diagnose der Krankheit – dramaturgisch gekonnt – die Bemerkung vorausschickt, dass jenes Jahr nach allgemeiner Einschätzung im Vergleich zu allen früheren weitestgehend frei von andere Krankheiten gewesen sei. Der Blitz schlägt aus heiterem Himmel ein, und der Mensch erfährt ähnlich wie ein Ödipus auf der Bühne, wie buchstäblich ‘ephemer’ sein Glück ist: Innerhalb eines einzigen Tages – griechisch hēméra – kann er aus einer Position vermeintlich unangreifbarer Stärke in tiefstes Elend stürzen, und dieses Bewusstsein der Gefährdung sollte uns – dies eine Kernbotschaft griechischer Tragödien – nicht nur vor hochmütiger Selbstüberschätzung warnen, sondern auch zu tiefem Mitfühlen mit unseren Mitmenschen anhalten.

Was bringt uns die Auseinandersetzung mit den Seuchen-Erfahrungen der Antike?

Sie lässt uns unsere bedrückenden Erfahrungen in einen grösseren historischen Kontext einordnen und verschafft uns dadurch mehr Luft und, wie ich meine, auch Gelassenheit. Es ist ja überhaupt so, dass grössere Entfernung uns manches klarer sehen lässt, und das gilt für die Auseinandersetzung mit der griechisch-römischen Antike ganz besonders: Sie erscheint uns auf der einen Seite infolge der zeitlichen Distanz in manchem ausgesprochen fremd und überrascht uns andererseits immer wieder mit erstaunlichen Parallelen, die nicht allein mit den zahlreichen Nachwirkungen der Antike im modernen kulturellen Gedächtnis zu erklären sind, sondern auch auf tieferliegende anthropologische Konstanten hinweisen, im Umgang mit Krisen und weit darüber hinaus.

Die Ringvorlesung des Zentrums für Altertumswissenschaften beschäftigt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit Seuchen und anderen Katastrophen. Welches Anliegen wurde bei der Planung der Veranstaltung verfolgt?

Nach «Migration, Kulturkontakt und Kulturkonflikt im Spiegel der Antike» im Jahr 2019 und «Demokratie, Demagogie und Populismus in der Antike und heute» im letzten Jahr hatten wir für 2021 als Jahresthema eigentlich die Rolle der Antike für die Konstruktion einer europäischen Identität vorgesehen, doch die aufwühlende Erfahrung der Covid-19-Pandemie hat uns dann zum neuen thematischen Schwerpunkt «Naturkatastrophen, Epidemien, Plagen» bewogen. Dabei ging es uns weniger darum, das Phänomen als solches zu beleuchten, sondern vielmehr der Frage nachzugehen, was solche Katastrophen mit uns Menschen anrichten. Für antike Gesellschaften, in denen ein unserem vergleichbares Sozialsystem fehlte, waren Seuchen ja an sich eine noch viel stärkere Herausforderung. Zugleich überrascht, wie die Deutungs- und Reaktionsmuster, die uns in den Quellen begegnen, bisweilen irritierend aktuell erscheinen, von der Suche nach Sündenböcken über Zweifel am politischen System bis zum Aufruf zu innerer Umkehr und Änderung des moralischen Verhaltens.