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Im Grunde kann ein Leben als Autorin immer und überall beginnen. Beim Gärtnern, nach Feierabend, während einer Reise. Manchmal startet die Karriere mit einem Geistesblitz, manchmal schleicht sie sich durch die Hintertür herein. Bei Regina Dieterle ergibt sie sich per Zufall. Irgendwann Anfang der 1990er-Jahre entdeckt sie am Deutschen Seminar einen Aushang: Gesucht wird eine Mitarbeiterin für ein Editionsprojekt zu Annemarie Schwarzenbach.
Dieterle, die nach 14 Semestern Germanistik, Psychologie und Publizistikwissenschaft mitten in ihrer Dissertation steckt, meldet sich spontan und lernt den Zürcher Herausgeber Roger Perret kennen. «Er wurde mein Lehrmeister in puncto Recherche, Dokumentation und Edition.»
Die Endzwanzigerin stürzt sich mit Begeisterung ins Buchprojekt, wühlt sich wochenlang durchs Zeitungsarchiv der Zentralbibliothek Zürich, auf der Suche nach unpublizierten feuilletonistischen Texten, Reiseberichten, Sozial- und Fotoreportagen Schwarzenbachs. Sie lernt, behutsam anzuklopfen bei Nachfahren und Erben und erhält Zugang zu in Privatbesitz befindlichen Typoskripten, Dokumenten und Fotos.
Noch heute merkt man Dieterle die Aufregung an, bei der Wiederentdeckung der Journalistin und Weltreisenden Schwarzenbach dabei gewesen zu sein. Mit «Auf der Schattenseite. Ausgewählte Reportagen, Feuilletons und Fotografien 1933–1942» (Lenos-Verlag) legt sie ihr Debüt als Herausgeberin und Autorin vor.
Zurück an der UZH, vertieft sich Dieterle wieder in ihre begonnene Doktorarbeit bei Peter von Matt, dem prominenten Schweizer Literaturwissenschaftler, dessen «klar strukturierten und schön gesprochenen Vorlesungen» sie so schätzt. «Die Zeit bei ihm», erinnert sich die 61-Jährige im Gespräch, «war enorm anregend. Ich konnte mit ihm sehr gut diskutieren, auch Streitgespräche führen. Wahrscheinlich, weil er mich als Expertin auf meinem selbstgewählten Feld ernst nahm.» Dieterles selbstgewähltes Feld ist ein weites: Sie untersucht in ihrer Dissertation die Vater-Tochter-Beziehungen bei Fontane, Frisch und Bachmann.
Vor allem zu Theodor Fontane entwickelt Dieterle rasch eine grosse Affinität, sie bewundert ihn für seine journalistischen und literarischen Texte, in denen sie «Sprachwitz, Selbstironie und eine grosse Portion Humanität» erkennt. Warum sie sich ausgerechnet diesem deutschen Dichter, Romancier und Chronisten so verbunden fühlt, weiss sie nicht genau, «ich verstehe ihn einfach in all seinen Facetten und Dimensionen». Fortan wird Fontane zum literarischen Mann an ihrer Seite.
Tatsächlich taucht die Zürcher Germanistin nach Abschluss ihres Doktorats vollends in Fontanes Welt ein. Sie reist zu den wichtigen Schauplätzen seiner Romane, den bedeutenden Wirkungsstätten seines Lebens, durchwandert die Landschaft, die der gelernte Apotheker mit dem schönen Schnauzbart immer wieder beschrieben hat: die Mark Brandenburg. In den vergangenen zwanzig Jahren ist Dieterle unzählige Male in diese von Seen und Weite, Schlössern und Klostern geprägte Landschaft gefahren, «um Fontane zu erleben».
In dessen Geburtsstadt Neuruppin, einem Garnisonsstädtchen, das als preussischstes aller preussischen Städte gilt, trifft sie im Laufe der Jahre Fontane-Forscher aus aller Welt. Hier hat die Theodor-Fontane-Gesellschaft, eine literarische Vereinigung, die die Beschäftigung mit Leben und Werk des Schriftstellers fördert, ihren Sitz. Regelmässig ist sie auch zu Gast in Potsdam und durchforstet, unterstützt vom SNF, das Theodor-Fontane-Archiv.
2001 entdeckt Dieterle dann den Nachlass von Fontanes einziger Tochter – und schreibt auf Grundlage ihrer Funde
deren Lebensgeschichte auf. Michael Krüger, renommierter Verleger beim Münchner Carl-Hanser-Verlag, bei dem «Die Tochter. Das Leben der Martha Fontane» 2006 erscheint, bittet Regina Dieterle, zu Fontanes 200. Geburtstag 2019 eine umfassende Biografie des Schriftstellers zu verfassen.
«Ich mache Sie zu einer reichen Frau», habe Krüger zu ihr gesagt. «Natürlich habe ich zuerst an die Millionen gedacht», meint Dieterle lachend. Erst im Laufe der Arbeit sei ihr klar geworden, was Krüger mit dem Ausspruch im Sinn gehabt habe: «Ich bin innerlich so reich geworden, weil ich das Leben dieses Ausnahmeschriftstellers niederschreiben durfte.» Das Ergebnis zehnjähriger Recherchen in Bibliotheken und Archiven ist eine anschaulich erzählte, mehr als 800 Seiten starke Fontane-Biografie, die einem das europäische 19. Jahrhundert und einen der wichtigsten Vertreter des literarischen Realismus näherbringt.
Der richtige Ton, den man anschlagen muss, um Wissen begreiflich zu machen, gelingt Regina Dieterle nicht nur in Büchern, sondern auch im Unterricht. Seit 1993 arbeitet sie parallel zu ihrer publizistischen Tätigkeit an der Kantonsschule Enge. «Literatur und Sprache» heisst das Fach, in dem sie mit Schülerinnen und Schülern Texte vom 18. Jahrhundert bis heute analysiert. Auch dieser Karriereweg ergab sich mehr zufällig als geplant: «Eines Tages sprach mich ein Assistent vom Deutschen Seminar in der Mensa an, ob ich Interesse an einer Vertretungsstelle an der Kantonsschule Rämibühl hätte.»
Dieterle fand Gefallen an der pädagogischen Arbeit – und absolvierte im Anschluss an ihre Dissertation noch das Lehrdiplom. «Tatsächlich», resümiert Regina Dieterle am Ende des Gesprächs, «habe ich an der UZH zu meinen zwei Berufungen gefunden: Schreiben und Unterrichten.»
Dieser Artikel stammt aus dem UZH Journal 1/2020