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9. Juni 1980: Tausende Studierende demonstrieren gegen den damaligen Erziehungsdirektor, Alfred Gilgen. Kurz zuvor war es zu den sogenannten «Opernhauskrawallen» gekommen. Junge Aktivistinnen und Aktivisten hatten dagegen protestiert, dass der Zürcher Stadtrat 60 Millionen Franken für die Renovation des Opernhauses bewilligte, aber ein neues autonomes Jugendzentrum ablehnte.
Es war eine bewegte und aufregende Zeit. Christian Schmid, heute Professor an der ETH Zürich, war damals als Geographiestudent dabei. Er hat den Ausspruch überliefert, den die damaligen Studierenden skandierten: «Geografe nüme schlafe, Geografe ad Demo!» Eine Gruppe Studierender wollte die kritischen Impulse der Jugendbewegung in ihr Studium am Geographischen Institut der Universität Zürich (GIUZ) tragen. Sie waren unzufrieden mit ihrem Studium und griffen die fachliche Kritik an der damaligen Geographie auf, die bereits am legendären Deutschen Geographentag in Kiel im Jahr 1969 von Studierenden vorgebracht worden war.
Mit den bewegten 1980er-Jahren hat sich seit Herbstsemester 2018 eine Gruppe von Studierenden am GIUZ in einem studentischen Forschungsprojekt beschäftigt. Sie fragten: Wieso «schliefen» die damaligen Geographen (und wenigen Geographinnen) aus Sicht der Aktivistinnen und Aktivisten? Welche Stimmung herrschte zu dieser Zeit am GIUZ? Was motivierte die Studierenden, sich für kritische Lehre einzusetzen? Wie wurden ihre Impulse am GIUZ aufgegriffen? Mehr als ein Jahr lang führten die Studierenden Archivrecherchen durch, lasen Institutsberichte, Sitzungsprotokolle, Zeitschriften der Fachschaft und Diplomarbeiten. Sie führten Interviews und Gespräche mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, vor allem ehemaligen Studierenden und Dozierenden des Instituts. Das Projekt wurde von Benedikt Korf, Professor für Politische Geographie, und Gary Seitz, langjähriger Bibliothekar des Instituts und selbst Studierender in jener bewegten Zeit, begleitet.
An einem Podiumsgespräch am 5. März 2020 wurden erste Ergebnisse dieses Projekts vorgestellt und mit drei geladenen ehemaligen Studierenden diskutiert. In ihrem einleitenden Vortrag zeigten Tim Fässler, Meret Oehen und Livia Zeller das schwierige Umfeld auf, in dem die Studierenden damals ihre Ideen einbrachten.
Diese nahmen das damalige Institut als politisch konservativ und die Lehre als wenig inspirierend wahr. Dennoch gaben sie nicht auf. Stattdessen organisierten sie Lesegruppen und Theorieseminare und tauschten sich mit deutschen Studierenden aus. Im Arbeitskreis «Wissenschaftstheorie und Kritik» organisierten sie sich über die Landesgrenzen hinweg. Ihr Anspruch war, theoretische Diskussionen vermehrt aus studentischer Sicht aufzugreifen und zu gesamtgesellschaftlichen Problemen Stellung zu beziehen. So entstanden kritische Diplomarbeiten in der Stadtgeographie, der Feministischen Geographie und der Disziplingeschichte. In allen drei Bereichen mussten sich die Studierenden die theoretischen Grundlagen selbst erarbeiten. Ihre Diplomarbeiten wurden von den Dozierenden nur widerwillig akzeptiert.
«Theorie wurde ein Instrument in der Auseinandersetzung», sagte Christian Schmid, einer der Podiumsgäste, in der anschliessenden Diskussion. «Hier kannten wir uns aus. Die Profs hatten davon keine Ahnung.» Es wurde unheimlich viel gelesen. Legendär wurde ein 1980/81 durchgeführtes Theorieseminar, das die Studierenden mitorganisierten, und zu dem sie führende kritische Geographinnen und Geographen aus Deutschland einluden.
Unter ihnen war Uli Eisel, der marxistische Geographie an der TU Berlin lehrte, und der am 5. März im Publikum sass. «Eisel war unser Vorkämpfer», bemerkte Dominik Siegrist, heute Professor an der Hochschule Rapperswil und ebenfalls Podiumsgast. Inspiration bezogen sie jedoch vor allem ausserhalb der Geographie: «Was läuft in anderen Fächern?», fragte sich damals Anne-Françoise Gilbert, die ebenfalls am Podium teilnahm und die heute als freischaffende Soziologin und Gender-Expertin tätig ist. Denn: eine Feministische Geographie gab es zu dieser Zeit nicht.
Mit ihren Ideen stiessen sie immer wieder auf Unverständnis unter den Dozierenden. «Es gab keine Betreuung. Es ging um die Frage, ob jemand bereit war, die Arbeit abzunehmen», schilderte Gilbert die Situation. Siegrist, der eine ideologiekritische Arbeit zu Nationalsozialismus und Schweizer Geographie schrieb, musste kritische Passagen über einen ehemaligen Institutsdirektor streichen. Dennoch konnte er seine Arbeit später in Deutschland veröffentlichen.
Am meisten Probleme bekam Schmid. Er schrieb zusammen mit Roger Hartmann, Hansruedi Hitz und Richard Wolff eine Gruppenarbeit zur kritischen Stadtgeographie. Ihr gemeinsam verfasstes Buch zu Theorien der Stadtentwicklung wurde von der Fakultät nicht als Diplomarbeit anerkannt. Sie mussten individuell weitere empirische Arbeiten verfassen. «Wir haben Jahre vergeudet mit diesen Arbeiten», meinte Schmid dazu. Keiner der damaligen Studierenden konnte innerhalb der Geographie eine wissenschaftliche Karriere verfolgen. Gilbert dazu: «Wir haben uns sozusagen im Widerspruch zum Fach sozialisiert.»
Dem Podium folgte eine lebhafte Diskussion mit dem Publikum. Viele Weggefährtinnen und Weggefährten der Podiumsgäste meldeten sich zu Wort, wussten Anekdoten zu erzählen oder wichtige Informationen zu ergänzen. Die Veranstaltung wurde so zu einem Erinnerungsort, einem Kristallisationspunkt für eine Selbstreflexion des Faches Geographie. Zum Abschluss des Abends fragten Maxie Bernhard und Nicola Siegrist, die das Podium moderierten, deshalb nach den Möglichkeiten, heute kritische Geographie zu betreiben.
Viel hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Die Geographie ist internationaler geworden. Kritische Geographie ist im Mainstream angekommen. Feministische Geographinnen besetzen erste Lehrstühle an Geographischen Instituten. Uli Eisel brachte es so auf den Punkt: «Für Euch ist es leichter: Ihr könnt kritische Geographie machen – ihr müsst es einfach wollen.»