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Haarsträubende Geschichten

Falschmeldungen durchsetzen unseren Nachrichtenalltag immer mehr. Doch weshalb verbreiten sie sich an manchen Orten leichter als an anderen? Edda Humprecht weiss, was Länder widerstandsfähig gegen «Fake News» mac
Ümit Yoker
Edda Humprecht weiss, was Länder widerstandsfähig gegen «Fake News» macht.


Einmal angenommen, liebe Leserin, lieber Leser, Facebook spielte ihnen folgende Behauptung zu: «Das Coronavirus ist ziemlich sicher eine biologische Waffe aus China.» Würden Sie den Post liken? Teilen? Oder kommentieren? Mehr als siebentausend Personen hat die Kommuni­kationswissenschaftlerin Edda Humprecht diese Fragen im Frühling während des Lockdowns gestellt. Sie wollte wissen, wie gross die Bereitschaft ist, Falschmeldungen in den sozialen Medien zu verbreiten – in diesem Fall zu Covid-19. Ihr Befund: Nicht gerade klein. Die Mehrheit der Befragten macht die chinesische Regierung für die Ausbreitung des Virus verantwortlich, weil sie zu spät auf das Problem reagiert hat. Doch ein Teil scheint sich durchaus vorstellen zu können, dass die Chinesen den Erreger auch selbst entwickelt haben könnten, wie dies der Facebook-Post behauptet.

Humprechts Studie ist Teil eines Projektes zum Thema Desinformation – einer Forschungskollaboration der Universitäten Zürich und Antwerpen, die die Informationsgesellschaften westlicher Länder miteinander vergleicht. Der Biowaffen-Post wurde nicht nur Menschen aus der Schweiz vorgelegt, sondern auch Belgierinnen und Franzosen, Deutschen, Briten und Amerikanerinnen. Es zeigte sich: Die Bereitschaft, den Post zu teilen, variiert zwischen den Ländern beträchtlich. Kann sich dies in den USA jede vierte Person vorstellen, ist es in der Schweiz nur eine von zehn. Woher kommen diese Unterschiede? Warum erreichen «Fake News» mancherorts Massen, während sie an anderen Orten rasch wieder versickern?

Wegretuschierte Weggefährten

«Fake News» gab es schon immer, auch wenn sie nicht immer so genannt wurden. Schon lange vor der Omnipräsenz von Internet und sozialen Medien wurden Lügen erzählt, um Einfluss auf die Menschen zu nehmen und politische Ziele durchzusetzen. So war zu Beginn der Neunzigerjahre in den USA davon die Rede, irakische Soldaten hätten bei ihrem Einmarsch in Kuwait Babys aus Brutkästen gerissen. Viele Amerikanerinnen und Amerikaner dürfte dies damals von der Notwendigkeit einer militärischen Intervention ihres Landes  gegen den Irak überzeugt haben. Allein: Die Geschichte war erfunden, eine Dienstleistung der amerikanischen PR-Agentur Hill&Knowlton, die zuvor schon für die Tabakindustrie die gesundheitlichen Risiken des Rauchens verharmlost hatte. Auch Fotografien erzählen nicht immer die Wahrheit: So waren auf dem Originalbild einer Rede Lenins 1920 neben dem Regierungschef auch Kamenev und Trotzki auf dem Podest zu sehen. Sein Nachfolger Stalin ersetzte die inzwischen in Ungnade gefallenen Weggefährten kurzerhand durch ein paar Holzstufen.

Polarisierung entscheidend

Was heute jedoch einzigartig ist: wie rasant sich Falschmeldungen verbreiten und wie viele Menschen sie erreichen. «Die technologische Entwicklung fällt in eine Zeit zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung», sagt Humprecht. «Beides verstärkt sich gegenseitig.» Gerade durch die sozialen Medien haben «Fake News» in den vergangenen Jahren enorm an Einfluss gewonnen. Die Präsidentschaftswahlen in den USA und das Brexit-Referendum in Grossbritannien 2016 stellen eine Zäsur dar: Die entsprechenden Kampagnen haben deutlicher als je zuvor demonstriert, wie sehr Falschmeldungen Demokratien in Gefahr bringen können.

Doch weshalb sind Menschen empfänglich für falsche und irreführende Nachrichten? Die Gründe dafür wurden zuerst beim Individuum gesucht. Denn, wir neigen dazu, eher Informationen zu glauben und für wichtig zu erachten, die unsere Ansichten bestätigen – Confirmation Bias beziehungsweise Motivated Reasoning nennen Psychologen dies. Hinzu kommt, dass wir unser Verständnis von Realität oftmals für das einzig wahre halten; ein Phänomen, das in der Wissenschaft unter dem Namen Naïve Realism läuft.

Welche Rolle spielen aber Politik, Medien und Wirtschaft eines Landes? Welche strukturellen Bedingungen begünstigen Desinformation? «Die Polarisierung der Gesellschaft ist ein entscheidender Faktor», sagt Humprecht. Wo sich zwei Lager unversöhnlich gegenüberstehen und kein echter Austausch von Ansichten und Ideen mehr möglich ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, nur noch das zu hören, was der eigenen Sichtweise entspricht. Eine populistische Rhetorik, ein ständiges «Wir gegen die anderen» leistet dem weiter Vorschub. «Es spielt irgendwann gar keine Rolle mehr, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht», sagt die Forscherin. «Viel wichtiger ist, ob man dieselben Werte vertritt.»

Gleichzeitig wächst damit häufig das Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen wie der Regierung, aber auch gegenüber den etablierten Medien. Dies schafft ein Publikum, das sich seine Informationen nicht mehr vor allem bei etablierten Qualitätsmedien holt, sondern nach Alternativen sucht. Problematisch ist das insbesondere, wenn diese alternativen Quellen Facebook oder YouTube heissen. «Die sozialen Medien sind auf Unterhaltung und Emotionen ausgerichtet», sagt Humprecht. Deshalb würden wir dort eher dazu neigen, Inhalte unbedacht zu teilen. Die Plattformen schlagen ihren Nutzern zudem hauptsächlich Beiträge vor, die dem bisherigen Suchverlauf und damit den persönlichen Neigungen und Interessen entsprechen – mit einer umfassenden und kritischen Berichterstattung professioneller Medien hat das wenig gemein.

Es geht aber nicht nur um politische Einflussnahme – denn mit vielen Klicks lässt sich auch prächtig Geld verdienen. «Der ökonomische Aspekt von Falschnachrichten ist nicht zu unterschätzen», sagt Humprecht. Das erklärt auch, warum «Fake News» in den Vereinigten Staaten ein viel grösseres Thema sind als etwa in der Schweiz. «Kleine Märkte sind schlicht weniger lukrativ.»

Wissen macht widerstandsfähig

Gut gerüstet für die Herausforderungen des digitalen Informationszeitalters sind also vor allem Länder, in denen die Gesellschaft geeint ist und populistische Rhetorik nicht so verbreitet ist. Es sind Länder, in denen das Vertrauen in die Regierung, aber auch in Wissenschaft, Justiz und Medien gross und die Öffentlichkeit gut informiert ist. Wie die bisherige Forschung von Humprecht zeigt, sind solche Bedingungen vor allem in nord- und westeuropäischen Ländern wie Schweden, Deutschland, Belgien, Irland oder der Schweiz, aber auch in Kanada gegeben.

Die Qualität der öffentlichen Medien ist dabei besonders wichtig: Wo sie hoch ist, wissen Menschen in der Regel mehr über aktuelle Debatten und begegnen zweifelhaften Behauptungen kritischer. Die Resilienz eines Landes gegenüber Fake News beruht deshalb letztlich nicht nur darauf, dass seine Bürger keinen Falschmeldungen ausgesetzt sind, sondern dass sie diese einzuordnen wissen. «Zudem funktionieren gute staatliche Medien als Benchmark für die privaten Nachrichtenorganisationen», ergänzt Humprecht. «Damit steigt die Qualität der Medien in einem Land insgesamt.»

BBC weniger einflussreich

Doch manchmal reicht auch das nicht aus. Das zeigt das Beispiel Grossbritannien. Obwohl die BBC weit über die Landesgrenzen hinaus Menschen erreicht und grosses Vertrauen geniesst, durchwucherten Falschmeldungen die Brexit-Kampagne. «Die EU war in Grossbritannien schon immer ein umstrittenes Thema», erklärt Humprecht. In polarisierenden Debatten lässt auch die moderierende Wirkung starker öffentlicher Medien irgendwann nach. Selbst die Schweiz sei nicht grundsätzlich widerstandsfähiger gegen Falschmeldungen als andere Länder, gibt Humprecht zu bedenken. «Hitzig diskutierte Abstimmungsthemen wie die Masseneinwanderungsinitiative könnten auch uns neue Herausforderungen bringen.»