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Die Menge ist so gross, dass man darüber verzweifeln könnte. Um die 3,8 Millionen Pflanzenbelege umfassen die Vereinigten Herbarien der UZH und ETH Zürich – Blütenpflanzen, Farne, Moose, Flechten und Algen. Etwa zur Hälfte stammen die Funde aus der Schweiz, zur anderen Hälfte aus teils fernen Ländern. Bis nach Neukaledonien und Neuguinea reisten und reisen die Pflanzensammlerinnen und Biodiversitätsforscher.
Die ältesten Herbarbelege in den Vereinigten Herbarien sind 300 Jahre alt. Lange Zeit wurden die Funde gepresst und auf Papier montiert. Dank der vielen historischen Funde lässt sich heute rekonstruieren, wie sich die Verbreitung der Arten über die Jahrzehnte entwickelt hat. Diese Qualität des «geordneten Heuhaufens», wie UZH-Kurator Reto Nyffeler die Vereinigten Herbarien liebevoll nennt, hat sich die Zürcherische Botanische Gesellschaft für eine Bestandesaufnahme der Flora im Kanton Zürich zunutze gemacht.
1100 Seiten umfasst das daraus entstandene Buch «Flora des Kantons Zürich». Es präsentiert sämtliche Pflanzenarten, die auf dem 1700 km2 grossen Zürcher Kantonsgebiet aktuell wachsen, und vergleicht sie mit den Funden um 1900. Dank dem Vergleich mit früher lassen sich die langfristigen Tendenzen wissenschaftlich quantifizieren. Es wird fassbar, welche Arten sich halten oder gar zunehmen und welche seltener werden oder mittlerweile verschwunden sind. Die historischen Angaben in den Vereinigten Herbarien erlaubten es ausserdem, das Buch mit zahlreichen interessanten Anmerkungen zur Ökologie zu versehen. Auch kurze Erklärungen zur Bedeutung von Pflanzennamen, zur Nutzung der Pflanzen (zum Beispiel als Färbe- oder Heilmittel) und zu verwandten Arten finden sich darin. Diese Vielfalt macht das Nachschlagewerk «Flora des Kantons Zürich» zu einer wahren Fundgrube für pflanzenbegeisterte Laien und Profis.
Die Bestandesaufnahme der Zürcher Flora war enorm aufwändig und wäre nicht möglich gewesen ohne Freiwillige, sogenannte Citizen Scientists. Es sind Privatpersonen, die über reiche botanische Kenntnisse verfügen und ihrer Aufgabe mit grosser Leidenschaft nachgingen. Während fünf Jahren erfassten sie auf einem vorgegebenen Gebiet sämtliche Pflanzenarten und ihre Häufigkeit (siehe Video).
Anders als früher reissen die Sammlerinnen und Sammler heute keine Pflanzenfunde mehr aus, sondern melden sie per Smartphone-App an Infoflora, das nationale Daten- und Informationszentrum der Schweizer Flora mit Sitz in Bern. Koordiniert wurde das Freiwilligennetzwerk die letzten zwei Jahre vom UZH-Biologen Gregory Jäggli.
Unter UZH-Kurator und Privatdozent Reto Nyffeler, der auch Informatik studiert hat, werden die Belege der Vereinigten Herbarien der Universität und ETH Zürich nun seit bald 20 Jahren fortlaufend digitalisiert. «Die Zürcher Herbarien können in der Zukunft nur mit dem Mehrwert der digitalen Information überleben», ist Nyffeler überzeugt. Die Digitalisierungsstationen befinden sich im Institut für Systematische und Evolutionäre Botanik im Botanischen Garten in Zürich. In einem feuersicher abgetrennten Raum vor dem eigentlichen Herbarium sind zwei digitale Kameras, Licht und Computer mit eigens programmierter Software installiert. Stück für Stück werden die auf Papier montierten Pflanzenbelege unter die Kamera gelegt, ausgeleuchtet, fotografiert und nach einem vorgegebenen System katalogisiert. Dabei wird wo nötig eine veraltete Systematik aktualisiert oder werden Bestimmungsfehler korrigiert.
Die Vervollständigung der Angaben in der Datenbank ist aufwändig und erfordert viel Spezialwissen – da kommen die Freiwilligen wieder ins Spiel. «Die einen können die Sütterlinschrift auf den historischen Belegen lesen, ein anderer war mit dem Sammler bekannt und ein dritter kennt sich gut in einem bestimmten Gebiet aus», erzählt Reto Nyffeler. So werden die digitalisierten historischen Belege nach und nach von Laien und Profis ergänzt und die Informationen dazu verfeinert.
Das Digitalisieren der 3,8 Millionen Herbarbelege erfolgt nicht von A bis Z, sondern projektbezogen. Projekte können Anfragen von Kantonen (Flora des Wallis), Regionen (Schweizerischer Nationalpark), Forschungsgruppen (die Flora im Saastal) oder Ökobüros (Exkursionsrouten) sein. Die meisten Nutzerinnen und Nutzer des digitalen Herbars sind also nicht Studierende oder pflanzenliebende Privatpersonen, sondern Institutionen, die eine spezifische botanische Fragestellung faktenbasiert erforschen wollen. Im digitalen Herbarium werden neben der systematischen Erfassung und Darstellung aller historischen Belege auch Fotografien der Pflanzen und Angaben zum Standort zu finden sein und für schwierig zu bestimmende Arten ein Verweis auf Unterscheidungsmerkmale oder gar das Pflanzen-Genom. Ausserdem kann der Fundort mit Swisstopo oder Google Maps angezeigt werden.
So ist im digitalen Herbarium eine spezifische Suche nach bestimmten Fragen möglich, z. B. nach Art, Sammler, Fundjahr oder Lokalität. Dadurch lassen sich sowohl Inventare eines bestimmten Gebiets erstellen, als auch Trends oder ökologische Zusammenhänge quantitativ belegen. Weitergehende Auswertungen zeigen zum Beispiel den Rückgang von Pflanzen in Feuchtgebieten, oder sie liefern Daten zur Klärung der Zusammenhänge zwischen dem Verlust von Bienen und Verwandten sowie dem Verschwinden insektenfreundlicher Magerwiesen und anderer naturnaher Lebensräume.
Auch im internationalen Kontext ist die Digitalisierung der Vereinigten Herbarien der Universität und ETH Zürich von Bedeutung. Sie erlaubt zum einen eine Wiedergutmachung: Die frühen Schweizer Forschungsreisenden, wie z. B. der Zürcher Botaniker Hans Schinz, dehnten ihre Suche nach unbekannten Pflanzen Ende des 19. Jahrhunderts bis in die entlegenen Kolonialländer der europäischen Staaten aus. Sie reisten nach Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), Neukaledonien, Brasilien oder Mexiko und brachten Herbarbelege und naturhistorische Objekte in grossen Mengen mit nach Hause, oft ohne Rücksicht auf lokale Gegebenheiten zu nehmen. Entsprechend fordern ehemalige Kolonialländer seit den 2000er-Jahren im Zusammenhang mit der Biodiversitätskonvention die gesammelten Objekte wieder ein. Eine Rückgabe in digitalisierter Form ist mittlerweile das international akzeptierte Vorgehen.
Die ausländischen Belege müssen noch aus einem weiteren Grund international zugänglich sein: Heute ist es in vielen Ländern nicht mehr ohne weiteres möglich, Pflanzen zu sammeln und zu exportieren, und auch deren genetische Information darf nicht ohne entsprechende Abkommen für Forschung und Pharmazie genutzt werden. In digitaler Form jedoch sind die bereits gesammelten Pflanzen von früheren Expeditionen greifbar.
Und einen dritten Vorteil weist die Digitalisierung der Vereinigten Herbarien auf: Die Nutzung der Informationen zu den Pflanzenbelegen kann über die digitale Plattform genau protokolliert und die Bedeutung der Sammlung damit nachgewiesen werden.
Bereits existieren weitergehende Pläne für die Zukunft. Den Botanikerinnen und Botanikern der Universitäten von Zürich und Basel schwebt ein gemeinsames virtuelles Herbarium als Teil des Plant Science Center vor, auf dessen digitale Pflanzenbelege global zugegriffen werden kann.