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Forschungsprojekt «Corona Immunitas»

«Sicher aus dem Lockdown»

Das Coronavirus wird uns noch länger begleiten. Solange es keine Impfungen gibt, braucht die Politik möglichst verlässliche Informationen zur Durchseuchung der Bevölkerung mit dem Virus. UZH-Epidemiologe Milo Puhan leitet die nationale Studie, die genau das untersucht. Die Ergebnisse werden gewissermassen im Liveticker veröffentlicht.
Roger Nickl und Thomas Gull
Milo Puhan
Die Neuinfektionen müssen nun stabil gehalten werden. Die Studie «Corona Immunitas» untersucht die Immunität der Schweizer Bevölkerung. Sie zeigt, wann in welcher Bevölkerungsgruppe Antikörper gebildet wurden.

Milo Puhan, das Coronavirus hält uns seit Monaten in Schach. Hätten Sie gedacht, dass wir mit einer Pandemie in diesem Ausmass konfrontiert werden könnten?

Milo Puhan: Ja und Nein. Ja, weil man immer mit einer Pandemie rechnen musste. Bis vor dem Coronavirus sind wir aber stets glimpflich davongekommen, in den vergangenen Jahren etwa mit Sars (2002) und Mers (2012). Damals bestand ebenfalls die Angst vor einer weltweiten Pandemie. Die Infektionen haben dann aber nie das Ausmass von Covid-19 angenommen. Der Einschnitt in den Alltag, der durch das Virus entstanden ist, ist enorm. Wir sind uns so etwas überhaupt nicht gewohnt. Deshalb war es letztlich für alle überraschend, niemand war darauf wirklich vor­bereitet.

Andere Pandemien blieben regional beschränkt. Weshalb ist diese so gross geworden?

Puhan: Das ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar. Und es gibt keine einfachen Erklärungen. So war die weltweite Mobilität 2012 bei Mers genauso gross wie heute und Grossanlässe gab es damals auch. Es muss etwas mit den biologischen Eigenarten dieses Virus und wie der Mensch darauf antwortet zu tun haben. Da dürfte das Geheimnis versteckt sein.

Wird die Forschung dieses Geheimnis lüften können?

Puhan: Wir werden Antworten erhalten. Die Frage ist, ob wir über die geeigneten Daten verfügen, um das zu untersuchen. Ich studiere im Moment die Literatur, die seit 2003 im Nachgang zur Sars-Pandemie publiziert wurde. Die Situation war damals teils vergleichbar. Doch leider wurden frühere Pandemien wie Sars wissenschaftlich zu wenig gründlich untersucht.

Ist das ein Problem?

Puhan: Eine bessere Erforschung von Pandemien mit Atemwegserkrankungen wie Sars und Mers könnte heute hilfreich sein. So beschäftigen wir uns aktuell intensiv mit der Frage, ob das Virus auf und unter Kindern übertragen wird.

Und von Kindern auf Erwachsene?

Das wären Fragen, bei denen es nützlich wäre, auf frühere Forschung zurückgreifen zu können.

Wird sich das mit Corona ändern?

Puhan: Ich hoffe es. Heute sind wir uns bewusster, dass man bestimmte Daten braucht, um das Virus zu ­erforschen. Dazu gehören Umgebungsabklärungen: Wenn jemand infiziert ist, schaut man sich immer die Umgebung an. Heute wird viel mehr getestet, ob Leute, die mit einem Infizierten Kontakt hatten, selbst erkranken oder Anti­körper dagegen gebildet haben, als Zeichen dafür, dass sie infiziert waren. Das sind Aspekte, die hoffentlich besser abgedeckt werden, als dies früher der Fall war. Das könnte uns dann bei künftigen Pandemien mit verwandten Viren helfen.

In der Bekämpfung von Covid-19 müssen Wissenschaft und Politik eng kooperieren. Sie sind auch Teil einer beratenden Task Force. Wie beurteilen Sie die bisherige Zusammenarbeit?

Puhan: Auf der eidgenössischen Ebene ist die Zusammenarbeit des Bundesamts für Gesundheit mit den Wissenschaftlern gut. Was von unseren Empfehlungen letztlich umgesetzt wird, liegt aber nicht in unserer Hand. Unsere Vorschläge sind auch nicht das allein Seeligmachende. In dieser Krise spielen viele Faktoren zusammen. Der Bundesrat hat einen brutalen Job, es ist grausam, was er entscheiden muss. Die Wissenschaft wird aber gut einbezogen und in einer positiven Weise. Aus anderen Ländern, etwa aus Deutschland, hört man viele negative Storys.

Welche denn?

Puhan: Etwa dass die Wirtschaft die Wissenschaft attackiert, weil es mit der Öffnung zu wenig schnell geht.

Waren die bisherigen politischen Entscheide gut und richtig, und was hätte man allenfalls besser machen können?

Puhan: Das Resultat gibt den bisherigen Entscheiden recht. Wir konnten den Anstieg relativ schnell brechen. Ich war ehrlich gesagt überrascht, dass das so gut funktioniert hat. Auch weil wir eben nicht so drastisch eingreifen mussten wie in anderen Ländern. Der Bundesrat hat sehr gut kommuniziert, indem er die Bevölkerung schrittweise an die nächste Phase herangeführt hat. Das hat dazu geführt, dass die Massnahmen relativ gut angenommen wurden.

Die Frage, die uns jetzt beschäftigt, ist, wie wir da wieder rauskommen.

Puhan: Da ist vielleicht noch nicht alles optimal gelaufen, auch in der Kommunikation. Der Auftritt des Bundesrats war zuweilen etwas allzu optimistisch. Da wurde vermittelt: Jetzt ist es vorbei, wir können wieder machen, was wir wollen. So ist es ja nicht.

Was wäre die richtige Botschaft?

Puhan: Beim Lockdown war das Ziel, den Infektionszahlen die Spitze zu brechen, damit das Gesundheitssystem nicht kollabiert und wir nicht in eine Situation kommen, wo kranke Menschen nicht mehr behandelt werden können. Das war eine klare Botschaft, die bei der Umsetzung und der Akzeptanz der Massnahmen enorm geholfen hat. Jetzt fehlt eine solche unmissverständliche Botschaft aber weitgehend. Im Vordergrund steht vielmehr eine Rückkehr zu einem einigermassen normalen Leben.

Was wäre denn jetzt die richtige Botschaft?

Puhan: Jetzt müsste kommuniziert werden, dass wir versuchen, bei den Neuinfektionen einen stabilen Zustand zu halten. Wir müssen die Infektionsrate so einpendeln, dass die Neuansteckungen nicht wieder in die Höhe schnellen. Und das so lange, bis wir eine Impfung haben. Das Virus wird nicht verschwinden. Es ist erst unter Kontrolle, wenn geimpft werden kann. Diese Botschaft ist aber, glaube ich, nicht ganz bei der Bevölkerung angekommen. Es ist schwierig, diesen stabilen Zustand zu erreichen. Dazu braucht es ein feines Austarieren. Wir müssen genau beobachten, wie sich die Infektionsrate entwickelt, und Entscheide treffen, die das berücksichtigen. Das ist wahrscheinlich auch schwieriger zu vermitteln.

Sie sind dabei, mit einer grossen Studie, die unter dem Titel «Corona Immunitas» läuft , die Immunität der Schweizer Bevölkerung zu untersuchen. Die Ergebnisse der Studie sollen unter anderem dazu dienen, Öffnungsmassnahmen zu planen. Wie helfen Ihre Befunde der Politik, zu entscheiden?

Puhan: Die Studie soll zeigen, wie sich die Lockerungsmassnahmen auswirken. Wir untersuchen, wie die Ausbreitung des Virus verläuft, wenn wir schrittweise öffnen. Das ist wichtig, weil viele Infektionen asymptomatisch verlaufen, das heisst, die Infizierten zeigen wenig oder keine Krankheitssymptome und werden deshalb gar nicht getestet. Unsere Studie zeigt, wann in welcher Bevölkerungsgruppe Antikörper gebildet wurden. Dazu gehören auch bestimmte Berufsgruppen wie das Pflegepersonal, Polizisten, Mitarbeitende im Detailhandel oder Chauffeure im öffentlichen Verkehr, die besonders exponiert sind.

Sie haben bereits im April in Genf die Phase eins der Studie begonnen. In Zürich ist die Studie im Mai gestartet. Was versprechen Sie sich davon?

Puhan: Mai und Juni sind eine erste Standortbestimmung: Was ist während er ersten Welle passiert, wie viele Personen haben sich tatsächlich mit Corona angesteckt? Das wissen wir heute ja nicht wirklich, weil viele gar nicht getestet wurden. Bei den Untergruppen interessiert uns wie gesagt, wie wirksam die Schutzmassnahmen waren.

Daraus kann man schliessen, ob man mehr für den Schutz tun muss. In Genf werden wir am Ende dieser Phase wohl 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung nachweisen können, die am Virus erkrankt sind. Das ist wesentlich mehr als die positiv getesteten Personen.

Wenn wir wissen, dass 15 Prozent der Bevölkerung Antikörper gegen SARS-CoV-2 haben – was bedeutet das? Was macht die Wissenschaft, was die Politik mit diesem Resultat?

Puhan: Das gibt uns eine Perspektive, wie sich die Immunisierung der Gesellschaft entwickelt. Die grosse Frage ist, wie weit wir von der sogenannten Herdenimmunität entfernt sind.

Damit dieser Herdenschutz gewährleistet ist, müssten 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung
immun sein.

Puhan: Mindestens, eher 70 bis 80 Prozent.

Eine grosse Frage ist die nach der Immunität. Sind die Träger von Antikörpern tatsächlich immun gegen Covid-19?

Puhan: Wir können die Antikörper gegen das Virus nachweisen. Wir wissen aber nicht, ob diese Antikörper das Virus so binden, dass es nicht mehr in die Zelle gelangen kann. Es gibt jedoch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das so ist, weil gewisse Antikörper genau auf die Spikes passen, jene Teile des Virus, die es ihm erlauben, die Zellen zu knacken. Die Hoffnung ist, dass das mit dem Immunschutz korreliert. Gesichert ist das aber noch nicht, denn wir verfügen noch nicht über Tests, die die neutralisierenden Antikörper nachweisen können, die das Virus komplett zerstören. Wir kennen auch die Verläufe noch nicht. Das ist ein wichtiger Teil unseres Projekts. Der härteste Test ist jener, der nachweist, ob bereits Infizierte eine zweite Infektion bekommen.

Wenn wir eine Durchseuchung von lediglich 15 Prozent haben, bedeutet dies, dass wir nicht einfach so zum Alltag zurückkehren können. Und auch jene, die über Antikörper verfügen, können nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie immun sind. Das heisst, Krankenschwestern, die schon infiziert waren, können nicht ohne Schutzmaske arbeiten?

Puhan: Genau. Deshalb ist es wirklich zu früh, zu sagen, man könne tun, was man wolle, wenn man einmal infiziert war.

Die erste Phase der Studie läuft jetzt, die zweite ist für den Herbst geplant, was erhoffen Sie sich davon?

Puhan: Im September werden wir feststellen können, wie sich die Lockerungen auf die Verbreitung des Virus auswirken. Im Idealfall sterben wenige Menschen, das Gesundheitssystem bricht nicht zusammen, die Leute können mehr oder weniger gut arbeiten und wir sind bei einer Durchseuchung von 30 Prozent. Vielleicht liegen die Werte auch tiefer. Diese Zahlen sind dann wichtig, um den Impfbedarf zu bestimmen – sind es zwei oder eher sieben Millionen Menschen, die man noch impfen muss?

Die Strategie ist, auf Zeit zu spielen, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht. Ist es vorstellbar, ohne Impfung in absehbarer Zeit eine Herdenimmunität zu erreichen?

Puhan: Ein Experiment zu machen, bei dem die Durchseuchung kontrolliert forciert wird, wäre fahrlässig. Dazu fehlt uns das Wissen.

Wann können wir mit einem Impfstoff rechnen?

Puhan: Ich weiss es nicht. In der Schweiz sind drei Gruppen in Bern, Basel und Marly im Rennen um die Entwicklung eines Impfstoffs. Sie versprechen alle, dass sie bis im Herbst eine Impfung haben. Ob dies der Fall sein wird, können wir heute nicht abschätzen.

Was ist die grosse Herausforderung bei der Impfstoff-Herstellung?

Puhan: Die Herausforderung bei Impfungen ist, dass sie sicher sein müssen. Sonst könnte ein grosser Schaden angerichtet werden, wenn viele Menschen geimpft werden. Dieser kann grösser sein als derjenige, der durch das Virus verursacht wird. Was man jetzt versucht, ist, in sehr kurzer Zeit eine Impfung zu entwickeln, die wirksam und sicher ist. Die Entwicklung einer Impfung dauert normalerweise Jahre.

Noch einmal zurück zu Ihrer Studie: Wie gehen Sie mit den hohen Erwartungen um – die Ergebnisse werden herangezogen, um wichtige politische Entscheidungen zu fällen?

Puhan: Uns ist klar: Wir liefern nur Puzzleteile. Die politischen Entscheide sind komplex, da spielen viele ­Faktoren rein. Doch wir hoffen, eine gewisse Datengrundlage liefern zu können.

Sie vermelden gewissermassen im Liveticker Ergebnisse der Studie. Das klingt ungewöhnlich, riskant und stressig, ist es das auch?

Puhan: Ja, das ist aussergewöhnlich. Doch unser ­primäres Ziel ist jetzt, Informationen zu liefern, die uns helfen, möglichst sicher aus dem Lockdown raus­zukommen. Da können wir nicht warten und alles schön büscheln.

Und stressig?

Puhan: Es ist stressig, aber im positiven Sinn. Wir können Dinge umsetzen, für die wir sonst oft Jahre brauchen, jetzt geht es innerhalb von Wochen und Monaten. Das ist eine besondere Erfahrung, auch weil wir gewisse Risiken eingehen können. Dafür sind wir der UZH dankbar. Der Aufbau des Covid-Testzentrums hat uns überhaupt in die Lage versetzt, jetzt so grosse Dinge anzupacken.

Die UZH hat einen Pandemie-Fonds geschaffen. Weshalb braucht es diese zusätzliche Unterstützung für die Forschung?

Puhan: Das Projekt übersteigt unsere institutionellen Möglichkeiten bei Weitem, deshalb versuchen wir, über verschiedene Kanäle zusätzliche Mittel zu erhalten: Die Swiss School of Public Health, aus kantonalen Zusatzleistungen, und alle Partner versuchen, auch lokal und regional Geld einzuwerben, wie wir mit der UZH Foundation. Ich bin zuversichtlich, dass wir die Finanzierung schaffen.

 

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