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Es müssen aufregende Stunden gewesen sein, als der Komponist Paul Hindemith am hiesigen Musikwissenschaftlichen Institut, an das er 1951 berufen wurde, seine Seminare hielt. Bei ihm wurde Musik nicht nur analysiert, sondern gleich auch praktiziert, gesungen und gespielt. Da lief wohl manchen Studierenden der Schweiss den Rücken hinab, wenn es allerlei komplexe Musikwerke ab Blatt zu singen galt. Doch in den 1950er-Jahren war Paul Hindemith eine Koryphäe in Europa, da nahm man einiges an Stress in Kauf, wenn man beim Meister studieren konnte.
Nun ist der Maestro in die Räumlichkeiten an der Florhofgasse zurückgekehrt – zumindest lebt sein Geist wieder auf: Die Fondation Hindemith hat dem Musikwissenschaftlichen Institut das Archiv, die umfangreiche Bibliothek, Noten, Partituren, persönliche Gegenstände und private Möbel aus der Villa La Chance in Blonay bei Vevey, dem Rückzugsort des Komponisten, geschenkt. Nun blickt Hindemiths Konterfei streng von der Wand, wenn sich die beiden Institutsdirektoren Inga Mai Groote und Laurenz Lütteken an seinem Esstisch besprechen.
Die damalige Berufung von Hindemith zum Professor für Musikwissenschaft sei spektakulär gewesen, sagt Lütteken. Eingefädelt hatten den Coup der Germanist Emil Staiger und der Anglist Heinrich Straumann. Ein Künstler sollte das Fach, das bisher noch ohne Lehrstuhl war, neu ausrichten und die Wissenschaft mit Kunst und Leben versöhnen. Tatsächlich wurde mit Hindemith kein akademischer Fachvertreter inauguriert. Hindemith – er hatte nie ein Gymnasium besucht, kein Abitur abgelegt, geschweige denn promoviert – stellte die Kompositionslehre ins Zentrum. Er war hochbegabt, ein intelligenter Universalmusiker, der leidenschaftlich für die Sache brannte. Gleichzeitig wollte er sich engagiert auf das Musikwissenschafts-Ordinariat an der Universität Zürich einlassen. Hindemith hatte das absolute Musikgehör und beherrschte – ausser der Harfe – fast alle Instrumente.
Was für ihn eine Selbstverständlichkeit war, konnte seine Studenten ziemlich ins Rotieren bringen. So berichtet der Biograf und frühere NZZ-Feuilletonredaktor Andres Briner von seiner Prüfung beim Maestro, die ihm wie ein Fegefeuer vorkam. «Obwohl Hindemith wusste, … dass ich nur behelfsmässig Klavier spielte, musste ich Mahlers ‹Kindertotenlieder› ab Blatt spielen und zugleich harmonisch analysieren … Hindemith sang den Vokalpart in den verschiedensten Lagen und unterbrach sich immer wieder, um mich anzufeuern. Während ich spielte und er mit Fistelstimme sang, war es mir nicht möglich zu analysieren. Er fauchte mich an, ich solle endlich den harmonischen Zusammenhang erklären, rief gelegentlich ‹Schneller!›, applaudierte meiner bruchstückhaften Analyse, begann dann aber voller Ungeduld auch wieder zu singen, während ich versuchte, ihn auf dem Klavier einzuholen.»
Hindemith machte mit der musikalischen Praxis auch vor seinen Hochschulkollegen nicht Halt, die sich nach Vorlesungsschluss in geselliger Runde am Klavier um den Meister zu versammeln hatten, um noch ein paar – harmonisch höchst komplexe – Madrigale von Gesualdo zu intonieren. Man kann es sich lebhaft vorstellen, wenn man einen Blick auf Hindemiths Flügel wirft, der nun halb verborgen unter einer rot-goldenen Damastdecke neben seinem Arbeitstisch und einer berstenden Bibliothek im Erdgeschoss des Musikwissenschaftlichen Instituts steht.
Hindemiths Musik – wie auch etwa die von Benjamin Britten oder Dimitri Schostakowitch – wurde lange als zu wenig avantgardistisch wahrgenommen und nie so recht als der Moderne zugehörig empfunden, meint Laurenz Lütteken, was vermutlich mit dem abschätzigen Urteil von Theodor W. Adorno zusammenhänge. Der einflussreiche Musikphilosoph verurteilte Hindemiths Musik gar als spiessig. Tatsächlich ging er seinen eigenen Weg. Ihm war das Zwölftonsystem von Arnold Schönberg zu streng. «Er schrieb eine Musik, die gut kommuniziert und verstehbar bleibt», sagt Inga Mai Groote. Seine Werke sind nicht atonal, die Klänge sind mehr oder weniger dissonant und erzeugen überraschende und farbige Harmonien. Hindemith bediente sich konventioneller musikalischer Mittel, setzte Themen und Melodien kreativ und überraschend ein. Er knüpft an die Formen der Tradition an und führt sie weiter.
Der Musikwissenschafts-Ordinarius, der 1895 im deutschen Hanau geboren wurde und aus einer Arbeiterfamilie stammte, wurde wie auch seine Geschwister schon früh musikalisch gefördert. So tingelte er mit Bruder und Schwester als gefeiertes Frankfurter Kindertrio durch die Bürgerhäuser der Gegend. Später, an den «Donaueschinger Kammermusiktagen», an denen der junge Hindemith als Bratschist im legendären Amar-Quartett spielte, das bekannt war für seine exzellenten Interpretationen zeitgenössischer Musik, gelang ihm als Interpreten und als Komponisten mit dem Streichquartett op. 16 der Durchbruch.
In den 1920er-Jahren schrieb er eine expressionistische Musik. Er interessierte sich für die aufkommenden neuen Medien, komponierte für den Rundfunk und den Film oder etwa für das Trautonium, eine Art Vorläufer des Synthesizers. Im Lauf der 1930er-Jahre stieg er zu einem namhaften zeitgenössischen Komponisten auf und entwickelte mehr und mehr seine klare, unsentimentale, sachliche Musiksprache.
In einem weiteren Raum im ersten Stock des Musikwissenschaftlichen Instituts zieht Inga Mai Groote Partitur um Partitur aus dem Regal, versehen mit Randnotizen, Anstreichungen, Eselsohren. Von Hindemiths umfangreichem Werk ist einer breiteren Öffentlichkeit nur ein Bruchteil bekannt, etwa die Opern «Cardillac» oder «Mathis der Maler». Dabei gibt es viel mehr zu entdecken. Seit geraumer Zeit zeichnet sich ein neues Interesse für den Komponisten ab, sagt Groote. Dies liegt nicht zuletzt an der gut edierten Werkausgabe, die im Schott-Verlag in Zusammenarbeit mit dem Hindemith Institut Frankfurt laufend erscheint, wo auch ein Grossteil seiner Autografen lagert.
Dass hinter der sachlichen Musik Hindemiths eine so schillernde Persönlichkeit steht, lässt sich erahnen, wenn man das Archiv durchstöbert. Laurenz Lütteken stapelt Bücher auf: Erstausgaben, Widmungen und Signaturen, etwa von Gottfried Benn, Igor Strawinsky oder Francis Poulenc. Hindemith muss ein immenses Netzwerk gehabt haben. Zwischen den Büchern steht eine Fleischmann-Modelleisenbahn. Wer hätte gedacht, dass der Komponist ein leidenschaftlicher Bähnler war. Groote zieht eine besondere Trouvaille unter dem Flügel hervor: eine Seekiste. Darin lagern von Hindemith aus Holz und Korken liebevoll gebastelte Eisenbahnen und Geländestücke.
1940 flohen Paul Hindemith und seine Frau Gertrude vor den Kriegswirren in Europa ins Exil in die USA. Hindemith frönte seinem Eisenbahn-Hobby fortan in der Ferne. Viele Züge und Bahnhöfe, die er dort bastelte, trugen die Kosenamen des Ehepaars. Überhaupt muss man ab und zu schmunzeln, wenn man zwischen der anspruchsvollen Literatur, Werken der Musiktheorie, Philosophie, Kunstgeschichte, Reiseliteratur und Belletristik immer wieder karikaturartige Zeichnungen entdeckt, die Hindemith auf Karten, Noten oder in Bücher gezeichnet hat.
Wiederkehrendes Motiv ist ein Löwe – das Sternzeichen seiner Frau – der zuweilen über ganze Partituren tanzt. In der Villa La Chance in Blonay, wo das Ehepaar nach dem amerikanischen Exil bis zum frühen Tod Hindemiths 1963 wohnte, stand wohl eine ansehnliche Sammlung dieser Tierchen. Ein paar wenige, besonders hübsche Exemplare haben es bis ins Archiv in Zürich geschafft.
Hindemith ist die Doppelfunktion als Musiker und Ordinarius für Musikwissenschaft dann doch zu viel geworden. 1957 entschied er sich für die Musik, das Dirigieren und das Komponieren, und zog sich von der Lehrtätigkeit am Musikwissenschaftlichen Institut zurück. Der Universität Zürich blieb er aber noch Jahre freundschaftlich verbunden, wie die zahlreichen Postkartengrüsse zeigen.
Jetzt, wo Hindemith im Musikwissenschaftlichen Institut sozusagen wieder Einzug gehalten hat, lebt sein ganzheitlicher Musikbegriff, seine Vision einer Musikwissenschaft, die mit der musikalischen Praxis geeint ist, auf die eine oder andere Art vielleicht wieder auf. Die verschobene Eröffnung von Hindemiths Archiv soll jedenfalls im nächsten Frühjahr gebührend (nach)gefeiert werden. Schon heute hat Tabea Zimmermann zugesagt, seine Bratschensonate zu spielen. Und wer weiss, vielleicht ist gar eine Öffnung des Instituts für gelegentliche Konzerte vor Ort denkbar.