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Zum vierten Mal hebt heute unter der Leitung des UZH Space Hub ein Airbus 310 ZERO-G von Dübendorf ab. Auf dem Programm: 16 Parabelmanöver, wiederholte extreme Steig- und Sturzflüge, mit denen für jeweils 22 Sekunden die Erdanziehungskraft überwunden wird. Während diesen Zeitspannen lässt sich experimentell untersuchen, wie sich die Schwerelosigkeit auf biologische, chemische oder physikalische Vorgänge auswirkt – und dies, ohne dass dafür die Erdatmosphäre verlassen werden muss. Denn im Weltall zu forschen, ist enorm teuer und aufwändig.
Dass eine Flugmission wie die aktuelle von Schweizer Boden aus starten kann, ist laut UZH-Anatomieprofessor und Space-Hub-Direktor Oliver Ullrich der einzigartigen Konstellation am Standort Dübendorf zu verdanken: «Die Verbindung von Forschung, Industrie und Flughafeninfrastruktur innerhalb eines Innovationsparks ist ideal für solche komplexen Forschungsflüge.»
Mit an Bord sind 35 Wissenschaftlerinnen und -schaftler der Universitäten Zürich, Basel und Bern, der ETH sowie weiterer Forschungsinstitutionen in Deutschland, Italien und den USA. Im Gepäck: Acht Experimente aus (Bio-)Medizin, Geologie und Astrophysik mit Innovationspotenzial. Sie reichen von möglichen Therapieansätzen bei Immunerkrankungen oder Muskelabbau über verbesserte Computermodelle der Mars-Geologie bis hin zur Erprobung neuer Technologien für die Raumfahrt.
UZH-Forscherin Cora Thiel etwa untersucht zusammen mit Wissenschaftlerinnen der NASA und der University of Wisconsin, wie sich menschliche Zellen an die Schwerelosigkeit anpassen, genauer: Wie die Wirkung der Schwerelosigkeit in den Zellkern gelangt und welche Gene dort reguliert werden. Die Experimente dazu werden im Rahmen des Space Act Agreements zwischen NASA und UZH durchgeführt. Sie helfen zu verstehen, wie mechanische Kräfte grundsätzlich auf unsere Gene wirken und wie Störungen des Immun- und Muskelsystems bei längeren Aufenthalten im Weltraum künftig vermieden werden könnten.
Ein anderes Experiment, das Thiel zusammen mit Oliver Ullrich unter Hochdruck aufgegleist hat, fokussiert auf Überreaktionen des Immunsystems bei schweren Covid-19-Verläufen. Aus der Raumfahrtmedizin ist bekannt, dass Immunreaktionen in der Schwerelosigkeit gedämpft ausfallen. Mithilfe zugelassener Medikamente versuchen die Forschenden nun einen identischen Effekt in menschlichen Zellkulturen herbeizuführen und damit eine mögliche Grundlage für neue Therapieansätze zu schaffen. Italienische Notfallmediziner an Bord testen derweil Instrumente für die kardiopulmonale Reanimation in Schwerelosigkeit respektive unter Schwerkraftbedingungen, wie sie auf dem Mond und Mars herrschen – ein Thema, das für die Raumfahrtmedizin von grosser Bedeutung ist.
Dass die Experimente zum aktuellen Zeitpunkt durchgeführt werden können, ist alles andere als selbstverständlich. Schutzbestimmungen und Reisebeschränkungen im Zusammenhang mit Covid-19 sind nicht nur für die Wirtschaft eine grosse Herausforderung, sondern auch für Forschung und Mobilität. Die grossen Parabelflugkampagnen der französischen, deutschen und europäischen Raumfahrtagentur sind derzeit alle ausgesetzt, ebenso jene in den USA.
Auch der Forschungsflug des UZH Space Hub hätte abgesagt werden sollen. Doch Initiator Oliver Ullrich setzte alles daran, dies zu verhindern, denn bei einer Verschiebung hätte ein neuer Flug frühestens im Herbst 2021 durchgeführt werden können. «Eine derart lange Verzögerung würde die Forschungsvorhaben der beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler enorm beeinträchtigen», so Ullrich. «Zudem lassen sich gewisse Forschungsförderungen nicht einfach um ein Jahr verlängern.» So leisteten er und das Projektteam in den letzten Monaten einen enormen Zusatzeffort, um das lang geplante Projekt dennoch zu realisieren.
Die grösste Schwierigkeit lag dabei, laut Ullrich, in der Unvorhersehbarkeit der Situation und in den uneinheitlichen staatlichen Massnahmen gegen die Pandemie. Der Parabelflug selbst findet zwar in der Schweiz statt, das Team rundum ist aber international: Flugzeug und Crew sind aus Frankreich, Teile der Forschungshardware stammen aus Deutschland und Italien, weitere Kooperationspartner kommen aus den USA. Jedes dieser Länder hatte eigene Einreisebeschränkungen, gleichzeitig war der Warenverkehr verlangsamt, Zuliefererketten brachen zusammen und administrativ lief nichts mehr ohne Sonderbewilligungen. Dazu Ullrich: «Eine Forschungsflugkampagne gleicht im Normalfall einem hochpräzisen Uhrwerk. Unter den aktuellen Bedingungen liefen jedoch diverse Zahnrädchen nicht mehr verlässlich oder brachen ganz weg.» Die Organisatoren der Flugkampagne waren an allen Fronten gleichzeitig gefordert. Sie erhielten aber auch Unterstützung, insbesondere von den öffentlichen Einrichtungen in der Schweiz: «Die Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Zivilluftfahrt BAZL, mit Zoll, Polizei und Luftwaffe war grossartig», lobt Ullrich. «Sie haben von Anfang mit uns nach Lösungen gesucht.» Zudem wird der vierte Parabelflug vom Swiss Space Office des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation SBFI unterstützt.
Für die konkrete Durchführung der Flugmission bedeutet die aktuelle Ausnahmesituation vor allem auch rigorose Schutzmassnahmen, die nebst den Schweizer Richtlinien auch jenen von Frankreich entsprechen. Dazu gehören Abstandsregeln ebenso wie ein strenges Desinfektionsregime, Schutzmasken, Handschuhe, abgepackte Lebensmittel und spezielle Sicherheitsbeauftrage zur Kontrolle der Massnahmen. Im Air Force Center auf dem Flugplatz Dübendorf arbeiten nur wenige Personen in einem grossen Hangar, an Bord selbst gilt für die 35 Forschenden und die Crew Maskenpflicht. Um unkontrollierte Kollisionen in Schwerelosigkeit zu vermeiden, ist diesmal auch das freie Schweben während des Flugs verboten.
Die Corona-Schutzmassnahmen widerspiegeln die minutiösen Vorbereitungen, die für einen Parabelflug grundsätzlich nötig sind. Die Forschenden entwerfen, bauen und testen über viele Monate Technologien, montieren sie ins Flugzeug und müssen damit die Flugzulassung durchlaufen; sie planen Abläufe und spielen sie durch bis jeder Schritt sitzt. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, denn «Sicherheit und Zuverlässigkeit stehen bei einer Forschungsflugmission an erster Stelle», wie Oliver Ullrich betont. Deshalb freut es ihn besonders, dass sich der UZH Space Hub in diesen schwierigen Zeiten als international vernetzter und verlässlicher Innovationspartner für Luft- und Raumfahrtprojekte beweisen kann. So bleibt innerhalb dieses durchorganisierten Systems eigentlich nur eines ungewiss: Der Ausgang der acht Experimente.