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Am Dienstag vor Ostern schwebt 800 Kilometer vor der kalifornischen Küste eine Raumkapsel an drei bunten Fallschirmen dem Pazifik zu. Dragon, so lautet der Name des unbemannten Transporters, bringt wertvolle Fracht zur Erde zurück: 250 Teströhrchen mit Geweben von menschlichen Stammzellen, die einen Monat an Bord der Raumstation ISS in 400 Kilometern Höhe die Erde umkreist haben. Ein Schiff bringt die Röhrchen nach Los Angeles, ein Flugzeug von dort nach Florida. Am Karfreitag treffen die Proben im Kennedy Space Center ein, und am Karsamstag schrauben zwei Wissenschaftlerinnen die Deckel auf. Es ist der Augenblick der Wahrheit.
In Zürich hält Oliver Ullrich den Atem an. Er ist Professor für Anatomie an der Universität Zürich und leitet den UZH Space Hub (siehe Kasten). Das Experiment mit der ISS geht auf seine und auf die Initiative seiner Kollegin Cora Thiel zurück. Thiel ist Molekularbiologin und forscht als Abteilungsleiterin am Institut für Anatomie der UZH. Vom Projekt im All versprechen sich die beiden Wissenschaftler und ihr Team neue Erkenntnisse darüber, wie Schwerkraft die Entwicklung und Funktion von Zellen beeinflusst.
Mit dieser Frage beschäftigt sich Oliver Ullrich, der nebenbei auch in Jena, Magdeburg und Bejing lehrt, schon seit sechzehn Jahren. In Magdeburg untersuchte er 2004 erstmals, wie Zellen sich verhalten, wenn die Schwerkraft entfällt – und erschrak. «Ich hatte nicht erwartet, dass sie so stark darauf reagieren. Das waren keine kleinen Veränderungen, das waren fundamentale Prozesse.» Schon damals erkannte Ullrich das Potenzial seiner Entdeckung für die Herstellung von Gewebe.
In herkömmlichen Labors wird menschliches Gewebe stets mithilfe einer sogenannten Matrix gezüchtet. Dieses winzige Gerüst stützt die wachsenden Zellen und schützt sie vor der erdrückenden Schwerkraft. «Das ist freilich alles andere als naturgemäss», sagt Oliver Ullrich. In der Schwerelosigkeit, so war er nach ersten Experimenten überzeugt, sollte sich menschliches Gewebe ohne künstliche Matrix dreidimensional züchten lassen. Also auf weitaus einfachere und womöglich auch kostengünstigere Art.
2019 begannen Ullrich und Thiel in Zürich mit einer Bodensimulationsstudie. Schwerelosigkeit lässt sich auf der Erde zwar nicht wirklich nachahmen, doch in einer rotierenden Flüssigkeit bleiben die zu testenden Objekte – in diesem Fall menschliche Stammzellen – immerhin in der Schwebe. Die Studie war erfolgreich: Es gelang, kleine Gewebestücke ohne Matrix herzustellen. Parabelflüge, bei denen ein Spezialflugzeug Schwerelosigkeit erzeugt, kamen als zweite Teststufe nicht in Frage: Die schwerelose Phase dauert hier nur gerade zwanzig Sekunden – zu kurz, um beobachten zu können, wie aus Stammzellen Körpergewebe wächst.
So ging es denn vom Boden gleich hinaus ins All. «Das klingt kompliziert, war aber alles recht einfach», sagt Ullrich. Die Universität Zürich begann eine Partnerschaft mit Airbus Defence and Space. «Wir lieferten die Biotechnologie, Airbus die Hardware, und die Projektkosten wurden geteilt.» Airbus hatte ein Förderprogramm für Innovationen im Weltraum ausgeschrieben, es gab rund 500 Eingaben; das Zürcher Projekt landete auf einem der vordersten Plätze und wurde berücksichtigt. Die zweite Jahreshälfte 2019 verbrachte das Forscherteam der UZH mit den Vorbereitungen auf den Raumflug. «Wir haben jeden einzelnen Schritt wieder und wieder getestet», sagt Oliver Ullrich.
Die 250 Röhrchen waren auf Versorgungsflug SpaceX CRS-20 vom 6. März gebucht. Einen Monat vorher begannen die Zürcher Forschenden damit, die Zellen vorzubereiten – pluripotente Stammzellen aus menschlichem Knochenmark, die zu Knochen-, Knorpel-, Fett- und Leberzellengewebe heranwachsen sollten, je nach dem «Wachstumscocktail», den man ihnen mitgab. «Wachstumscocktail» nennt Oliver Ullrich eine Mischung von künstlich erzeugten Botenstoffen und anderen Substanzen, die denen im menschlichen Körper entsprechen und die Art des zu züchtenden Gewebes bestimmen.
Kurz vor dem Starttermin füllte das Team um Ullrich und Thiel die Proben ab, versorgte sie in dem von Airbus entwickelten CubeLab-Modul, einem mobilen Minilabor, und übergab das ganze Paket den Weltraumspediteuren. Dann folgte banges Warten. Denn Frachtflüge zur Raumstation ISS können sich verzögern, «und lebende Zellen», so Ullrich, «kann man nicht eine Woche im Lagerhaus rumgammeln lassen». Das Team hatte deshalb vorsichtshalber im Abstand von jeweils drei Tagen Ersatzkulturen angelegt.
Doch diesmal lief auf Cape Canaveral alles rund: Am 6. März um 23.50 Uhr Lokalzeit hob die zweistufige Trägerrakete mit der Dragon-Raumkapsel planmässig ab. Oliver Ullrich hatte in Zürich zu tun und konnte nicht dabei sein. Hat er den Start wenigstens auf NASA Television verfolgt? Ullrich lacht: «Ich kann mir kaum vorstellen, dass irgendjemand aus unserem Team da nicht zugeschaut hat.»
Zwei Tage dauerte die Reise, bis Dragon an der ISS andockte. Die Crew der Raumstation versorgte die Schweizer Fracht zusammen mit Forschungsobjekten aus anderen Ländern im Bordlabor. Zu tun gab es nichts, das Gewebe würde von selbst wachsen – oder auch nicht. Aber es wuchs tatsächlich: Als Ullrichs Mitarbeitende am Karsamstag die Deckel der 250 Röhrchen aufschrauben, erkennen sie das Gewebe mit blossem Auge. In der Nährflüssigkeit schwimmen kleine Klumpen, nicht bloss Zellfasern. Richtige Gewebestücke also, und grösser als jene aus der Bodensimulationsstudie.
Beinahe hätte das Coronavirus den Zürcher Forschenden einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die USA erlaubten vor Ostern keine Einreisen mehr, der Transport der Proben von Kalifornien nach Florida war nicht gesichert, die Labors im Kennedy Space Center blieben geschlossen. Doch die US-Behörden reagierten rasch und unbürokratisch. Gerade noch rechtzeitig konnten Ullrichs Mitarbeitende mit allerlei Sondergenehmigungen in der Tasche von Zürich nach Miami fliegen und die Proben aus dem All in Empfang nehmen. Vor der Abreise hatten sie über zwei Wochen zuhause in selbstauferlegter Quarantäne verbracht.
Ostersonntag. Nach der ersten Sichtung werden die 250 Proben in flüssigem Stickstoff eingefroren. Irgendwann sollen sie in die Schweiz gelangen. Doch wegen Corona sind die Zürcher Forschenden erst einmal vorsichtig. «Wir möchten nicht, dass die Zellen auf irgendeinem Flughafen stranden, auftauen und kaputtgehen», sagt Oliver Ullrich. Einmal in Zürich angelangt, wird man das gewachsene Gewebe histologisch und molekularbiologisch untersuchen. Und auch sein Genom sequenzieren. Denn im All waren die Zellen einen Monat lang kosmischer Strahlung ausgesetzt, «und», sagt Ullrich, «wir wollen ja niemandem Zellen mit beschädigter DNA implantieren».
Vom Implantieren ist man freilich noch ein ganzes Stück entfernt. Vorerst gilt es, den Schritt vom Forschungsprojekt zum Businessmodell zu wagen. Also ein Spin-off zu gründen, Investoren zu finden und die Gewebezucht im All auf Produktionsstufe zu erheben. Oliver Ullrich ist zuversichtlich, dass dies gelingt. «Es müssen vorerst gar keine Transplantate sein. Gewebeproben dienen auch dazu, Medikamente zu testen, und da ist der Markt heute gross.» Kein Wunder, denn auf diese Art lassen sich Tausende von Tierversuchen vermeiden.
Und die Kosten? Ullrich schmunzelt: «Die Raumfahrt ist kein Wettlauf zwischen den Staaten mehr, der Milliarden verschlingt.» Und er rechnet vor: Lässt sich das CubeLab-Modul durch regelmässige Gewebezucht amortisieren und das ganze Prozedere vereinfachen, bleiben fast nur noch die Flugkosten. Das Retourticket Florida-ISS kostet pro Kilogramm rund 5000 US-Dollar, und in einem Kilogramm finden viele Proben Platz. Kommen noch die Löhne eines zweiköpfigen Teams hinzu, das die Proben für den Flug bereitstellt und danach wieder in Empfang nimmt. «Das alles ergibt Beträge, die für medizinische Interventionen durchaus im Rahmen sind.» Und vielleicht sogar niedriger als bei der umständlichen Gewebezucht in irdischen Labors.
Oliver Ullrich ist vom Träumer zum Visionär geworden. Als Junge faszinierten ihn glitzernde Raumschiffe und ferne Galaxien; er interessierte sich für alles, was ausserhalb unseres Planeten lag. Heute rechnet er jene Flughöhe, auf welcher sich Raumstationen wie die ISS bewegen, nicht mehr zum All. «Der untere Orbit gehört für mich zur Erde», sagt Ullrich, «da sind wir ja nicht bei den Sternen im Outer Space.» Wir sollten, sagt er, den unteren Orbit nicht nur als Forschungsstätte betrachten, sondern auch als natürlichen Raum für die industrielle Produktion nutzen. Schwerelosigkeit sei für viele Herstellungsprozesse hilfreich, bei der Legierung von Metallen etwa oder bei der Entwicklung von Medikamenten. «Es geht darum, Denkbarrieren abzubauen», sagt Ullrich. «Das erdnahe Weltall ist von Zürich kaum weiter entfernt als Genf.»