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Gender-Medizin

Frauenherzen altern anders

Die Kardiologin Catherine Gebhard erforscht, weshalb sich bestimmte Krankheiten auf Frauen und Männer unterschiedlich auswirken. Die Corona-Pandemie ist für die Pionierin der Gender-Medizin Lehrbeispiel und Weckruf zugleich
Stefan Stöcklin
Nach der Menopause werden Frauenherzen kleiner. Der weibliche Organismus kompensiert das geringere Volumen durch eine erhöhte Pumpleistung.


Eine Infektion mit dem Coronavirus wirkt sich ganz verschieden auf Menschen aus. Insbesondere befällt Covid-19 Männer und Frauen in unterschiedlichem Mass. «Als ich die ersten Zahlen zu den Infektionen und Todesfällen sah, war mir klar, dass wir da tätig werden müssen», sagt Catherine Gebhard. Das Spezialgebiet der Kardiologin ist die Gender-Medizin.

Wie in der ganzen Welt sterben auch in der Schweiz mit einem Anteil von rund 60 Prozent deutlich mehr Männer an Covid-19 als Frauen. In manchen Staaten macht ihr Anteil sogar drei Viertel der Opfer aus. Männer werden häufiger hospitalisiert, sie belegen mehr Betten auf den Intensivstationen und müssen intensiver und länger betreut werden. «Die Geschlechtsunterschiede beim Verlauf der Krankheit sind deutlich», sagt Gebhard. Umso wichtiger ist es für die Medizinerin, diesen Differenzen auf den Grund zu gehen, denn eine optimale Prävention und Behandlung hängt vom Wissen um diese Unterschiede ab.

Einflussreiche Geschlechtshormone

Um möglichst rasch zu verstehen, was da abläuft, hat die Kardiologin zusammen mit Kolleginnen und Kollegen eine Studie zum Einfluss von Sex und Gender auf den Krankheitsverlauf von ­Covid-19 konzipiert, die der Schweizerische Nationalfonds im Rahmen der Sonderausschreibung zur Erforschung von Coronaviren finanziert. «Wir vermuten, dass der Einfluss der Geschlechtshormone auf spezielle Zellmoleküle und unterschiedliche Immunantworten bei Frauen und Männern hauptsächlich verantwortlich sind», sagt Gebhard. Diesen Vermutungen liegen gut begründete Hypothesen zugrunde. So ist bekannt, dass das weibliche Hormon Östrogen Moleküle auf den Oberflächen der Zellen beeinflusst, die das Coronavirus zum Eindringen braucht. Es handelt sich um das Membranprotein ACE2. Dieses befindet sich unter anderem auf den äusseren Zellschichten des Lungengewebes und der Blutgefässe, die Sars-CoV-2 befällt.

Frühere Studien haben gezeigt, dass das Herz- und das Nierengewebe von Männern dichter mit ACE2 besetzt sind als bei Frauen. Und gemäss ersten Hinweisen können weibliche und männliche Geschlechtshormone dieses Protein gegensätzlich beeinflussen. In ihren Arbeiten untersucht Gebhard den Einfluss von Östrogen auf diese Rezeptor­dichten.

Im Fall eines weiteren Membranmoleküls namens Tmprss2 scheint das männliche Sexualhormon Testosteron eine Rolle zu spielen und die Rezeptoren zu beeinflussen. Darauf weisen unter anderem erste Erfolge mit Anti-Testosteron-Therapien gegen Covid-19 in Italien hin. Zusammen sind die beiden Proteine Teil eines grösseren und äusserst komplizierten Netzwerks von Hormonen und Enzymen, die das Blut- und Wasservolumen im Körper regulieren. Die Untersuchungen finden sowohl im Labor anhand von Tierstudien als auch in der Klinik bei Patientinnen und Patienten statt. Das Universitätsspital Zürich (USZ) sowie Universitätskliniken in Basel, Bern und Berlin sind an den Arbeiten beteiligt. Erste Resultate sollten voraussichtlich Ende Jahr vorliegen, sagt die Forscherin. Das gilt auch für das Immunsystem, wo Studien zu geschlechtsspezifischen Reaktionen der Entzündungsreaktionen im Zentrum stehen.

Schrumpfende Herzen

Für Catherine Gebhard ist die Pandemie ein Lehrbeispiel der noch wenig bekannten Disziplin der Gender-Medizin. Ein Facharzttitel existiert hierzulande im Unterschied zum Beispiel zu Österreich noch nicht. Die 42-jährige, aus Bad Säckingen am Rhein stammende Ärztin ist eine Vorreiterin auf dem Gebiet und besetzte 2016 die erste Professur für Gender-Medizin in der Schweiz an der UZH.

Das Schlüsselerlebnis für ihren wissenschaftlichen Werdegang war ein Hinweis ihres früheren Chefs der Echokardiografie am Universitätsspital Zürich. Mit den Ultraschallgeräten lassen sich die Herzkammern und -klappen bildlich darstellen und vermessen. Ihr Mentor bemerkte damals, dass das Herz von älteren Frauen stärker schlägt als das von gleichaltrigen Männern. Später wies Gebhard in einer eigenen Studie nach, dass das weibliche Herz stärker kontrahiert und mehr Blut in den Kreislauf pumpt. «Seither hat mich das Thema nicht mehr losgelassen», sagt sie.

Inzwischen ist klar, dass Frauenherzen anders altern als die von Männern. «Die Pumpfunktion im Alter ändert sich, weil Frauenherzen nach der Menopause kleiner werden, was bei Männern nicht der Fall ist», sagt die Kardiologin. Der weibliche Organismus kompensiert das geringere Volumen durch eine erhöhte Pumpleistung – was nicht vorteilhaft für die Frauen sei, denn diese Leistungssteigerung erhöhe die Sterblichkeit, wie neuere Daten zeigten. Dies, obwohl Frauen im Schnitt zehn Jahre später als Männer an Verengungen und Verschlüssen von Herzkranzgefässen erkranken, weil sie durch Östrogen zunächst geschützt sind. Nach der Menopause nimmt dieser Schutz ab, die Ablagerungen in den Gefässen steigen und damit die Gefahr eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls. Noch viel zu wenig bekannt sei, dass Herzinfarkte bei Frauen anders verlaufen. «Oft werden Herzinfarkte nicht rasch genug erkannt, weil sich die Sym­ptome unterscheiden», sagt Gebhard. Statt Brustschmerzen, die in den linken Arm und den Unterkiefer ausstrahlen, haben Frauen oft unauffälligere Beschwerden wie Bauch- und Rückenschmerzen oder Übelkeit. In der Folge gehen sie später zum Arzt, was fatal sein kann. Was die Vorsorge betrifft, lassen sich Frauen seltener auf Verengungen der Herzkranzgefässe untersuchen. Und in klinischen ­kardiologischen Studien sind Frauen generell unterrepräsentiert. Dies alles trägt dazu bei, dass in Europa mehr Frauen als Männer an Herz-Kreislauf-Erkrankungen sterben.

Dominante Männer

Die Medizin, gerade in der Kardiologie, ist von Männern dominiert, was einen Teil des Tunnelblicks erklärt. Es gehe bei der Gender-Medizin aber um mehr als biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern: «Gender-Medizin umfasst sowohl biologische als auch kulturelle und soziale Aspekte», sagt Gebhard. Im Fall von Herzkrankheiten zeigt sich zum Beispiel, dass Frauen nach einem Herzinfarkt durch mentalen Stress stärker belastet sind als Männer. Sie machen sich mehr Sorgen und sind durch Doppel- und Mehrfachbelastungen in Beruf und Familie stärker gefordert. Dies hätten Untersuchungen bei herzkranken Frauen zur Aktivität des Angstzentrums im Gehirn, der sogenannten Amygdala, gezeigt, so Gebhard.

Diese sozialen Reaktionen überlagern die biologischen Faktoren, die eigentlich schützend wirken sollten. «Das soziokulturelle Geschlecht kann sich gegensätzlich zum biologischen Geschlecht auswirken», sagt Gebhard. Dies lässt sich auch bei Covid-19 beobachten: Nach dem Lockdown infizierten sich mehr Frauen als Männer. Vermutlich waren sie an ihrem Arbeitsplatz sowie bei der Betreuung der Familie dem Coronavirus stärker ausgesetzt. Um solche soziokulturellen Einflüsse zu untersuchen, arbeiten erste Ärztinnen und Ärzte bereits mit einem sogenannten Genderscore, der diese Aspekte in die Behandlung einbezieht. Federführend seien diesbezüglich Kanada und Deutschland.

Vorurteile mit Folgen

In der Schweiz stösst die Gender-Medizin zwar zunehmend auf Anerkennung, aber Erkenntnisse gerade in der klinischen Medizin würden noch zu wenig umgesetzt, bedauert Gebhard. Und noch immer höre sie das Vorurteil, Gender-Medizin sei Frauenmedizin. Dabei zeigt gerade Covid-19 das Gegenteil, da diese neue Krankheit Männer stärker betrifft. Dies habe den einen oder anderen Kollegen zur Bemerkung veranlasst: «Endlich macht ihr mal etwas für die Männer.»

Die Kardiologin kann über solche Sprüche nur lächeln. So wurde unterdessen gezeigt, dass zum Beispiel die Magersucht zu Unrecht als typische Frauenkrankheit abgestempelt ist. Auch Männer erkranken daran, wobei die Therapien auf Patientinnen ausgerichtet sind. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Osteoporose, die angeblich vor allem Frauen nach der Menopause befällt – sie ist aufgrund dieser Vorurteile bei Männern stark unterdiagnostiziert und gehört beim Mann zu einem der am meisten vernachlässigten Krankheitsbilder Europas. Was zeigt: Von der Gender-Medizin profitieren sowohl Männer wie Frauen.

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