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Anthropologie

Das gesellige Leben der Delfine

Die Delfine in der australischen Shark Bay pflegen lebenslange Freundschaften und kooperieren in offenen Netzwerken miteinander. Das komplexe Sozialleben sei ein Zeichen von Intelligenz, sagt Anthropologe Michael Krützen.
Thomas Gull
Männliche Delfine bilden stabile Allianzen von bis zu einem Dutzend Tieren. (Video: Stephan Läuppi, UZH)


Die drei Delfinmännchen umkreisen das Weibchen, trennen es von der Gruppe und treiben es dann davon. Was wir hier auf dem grossen Bildschirm im Büro von Michael Krützen auf dem Irchel-Campus der UZH beobachten, ist das Kidnapping eines paarungsbereiten Delfin­weibchens durch eine Gruppe von Männchen. Gefilmt wurde diese Szene in der Shark Bay im Westen Australiens. Die Shark Bay ist ein einzigartiger Lebensraum mit einer ungewöhnlichen Dichte an Meerestieren, dazu gehören neben Delfinen, Walen oder Schildkröten vor allem Haie, denen die Bucht ihren Namen verdankt.

Den Anthropologen Michael Krützen inte­ressieren jedoch die Delfine, die er seit 1996 beobachtet. Wissenschaftliche Schlagzeilen machen dabei vor allem zwei Aspekte seiner Delfinforschung: Das Sozialverhalten der Tiere und ihr Gebrauch von Werkzeugen bei der Jagd. Nun mag man sich fragen, weshalb ein Anthropologe Delfine beobachtet. Denn Krützens Fach, die Anthropologie, wird definiert als die «Wissenschaft vom Menschen und seiner Entwicklung». 

Was Krützen an den Delfinen interessiert, ist, ob sie menschenähnliches Verhalten zeigen, das als Vorstufe zu unserem Verhalten gedeutet werden kann. Mit dem gleichen Ansatz hat Krützens Vorgänger als Direktor des Anthropologischen Instituts der UZH, Carel van Schaik, während Jahrzehnten Orang-Utans erforscht – mit bemerkenswerten Ergebnissen. Was Krützen mittlerweile über die Delfine berichten kann, ist nicht weniger bahnbrechend. Und es rückt diese punkto Intelligenz vielleicht noch näher zu uns Menschen als die grossen Menschenaffen, die ja als unsere nächsten Verwandten im Tierreich gelten. 

Zur Paarung gezwungen

Doch zurück zu den drei Männchen, die sich das Weibchen geschnappt haben. Sie werden es zwingen, bei ihnen zu bleiben. Die «Geiselhaft» kann mehrere Wochen dauern. Dabei geht es oft wenig romantisch zu und her. «Wenn das Weibchen fliehen will, wird es mit Gewalt und lauten Geräuschen daran gehindert», erzählt Michael Krützen. Dazu gehören Schläge mit den Flossen, Stösse mit dem Schnabel oder ein durchdringendes Geräusch aus dem Blasloch. Während seiner Gefangenschaft paaren sich die Delfine reihum mit dem Weibchen. Dabei scheinen alle Männchen gleichermassen zum Zug zu kommen.

«Dass die Männchen auf diese Weise kooperieren, ist im Tierreich aussergewöhnlich», sagt Krützen, «denn es geht um eine Ressource, die nicht geteilt werden kann – in diesem Fall die Vaterschaft.» Affen tun sich gelegentlich zusammen, etwa um ein Tier mit höherem Status anzugreifen. Doch in der Regel können sich vor allem die dominanten Männchen fortpflanzen. Bei den Delfinen ist das anders, das zeigen die genetischen Analysen: «Die Vaterschaften sind innerhalb der Gruppe relativ gleichmässig verteilt, es scheint also niemand dominant zu sein», so Krützen. 

Wenn die Delfinmännchen sich ein Weibchen geschnappt haben, bedeutet das nicht, dass sie über längere Zeit unangefochten darüber verfügen können. Denn paarungsbereite Weibchen sind Mangelware. Deshalb muss die Gang das Weibchen immer wieder gegen andere Banden von Delfinen verteidigen. Dabei kann es zu Kämpfen kommen, bei denen sich die Tiere gegenseitig verletzen. Schlussendlich ziehen dann die siegreichen Männchen mit dem Weibchen davon.

Die besten Gene

Und die Weibchen? Auf den ersten Blick können sie nicht selber entscheiden, mit wem sie ihren Nachwuchs zeugen. Doch, so Krützen, die Weibchen wollen die besten Väter mit den besten Genen. Die Frage ist, ob sie deshalb eine Strategie gegen die organisierte Gruppenpaarung mit den Männchen haben. Ein Trick, mit dem die Weibchen eine unerwünschte Schwangerschaft verhindern könnten, wäre, nicht schwanger zu werden, während sie von Männchen begattet werden, die ihnen nicht zusagen. Während der Paarungszeit, die von September bis Januar dauert, könnten die Weibchen mehrere Zyklen haben. Und sie könnten es dann «einschlagen» lassen, wenn der Partner ihnen zusagt. Ob dem so ist, weiss Krützen im Moment noch nicht. «Leider können wir noch keine Hormonanalysen an wilden Delfinen durchführen, die uns diese Frage beantworten könnten.»

Bei den Delfinen in der Shark Bay ist Frauenraub gang und gäbe. Doch was sagt uns das über uns Menschen? Solches Tun wird zwar durchaus beschrieben, etwa in den homerischen Epen. Oder wir kennen sexuelle Gewalt als Teil perverser Strategien in modernen Bürgerkriegen. Doch sieht der Anthropologe da tatsächlich eine Analogie zu uns Menschen? Krützen winkt ab. Ihn interessiert etwas anderes: die Gruppenbildung der Delfine. 

Lebenslange Freundschaften

Diese ist tatsächlich aussergewöhnlich. Denn die männlichen Del­fine tun sich schon als Jugendliche zusammen und bleiben sich dann ihr Leben lang treu – anders als die Weib­chen, die sich in grösseren, aber loseren Verbänden bewegen. «Männliche Delfine bilden stabile Allianzen von bis zu einem Dutzend Tieren, manchmal auch mehr», sagt ­Michael Krützen. Die Basis dieser Allianzen sind Jugendfreundschaften von Tieren, die miteinander aufgewachsen sind, aber nicht verwandt sein müssen. Wichtig dabei: Es gibt keine männlichen Del­fine in der Shark Bay, die nicht einer Allianz angehören. Das hat einen einfachen Grund: Ohne Allianz gibt es keine Weibchen. Für eine erfolgreiche Fortpflanzung müssen die männlichen Delfine einer Bande angehören, und da idealerweise der richtigen, denn einige Allianzen haben ständig Weibchen, andere seltener, wie Krützens Doktorandin Livia Gerber beobachtet hat. 

Die Allianzbildung der männlichen Delfine ist Teil eines komplexen Sozialverhaltens, das die Delfine von der Shark Bay auszeichnet. Denn die Del­fine zeigen Formen von Geselligkeit, die über die festgefügten und stabilen Gruppen von Männchen hinausgehen. Sie leben in sogenannten offenen «Fission-fusion»-Gesellschaften, übersetzt Spaltungs-Fusions-Gesellschaften. Darunter versteht man Gesellschaften, in denen sich die Grösse und Zusammensetzung der Gruppen ständig verändert. Bei den Delfinen bedeutet das: Sie treffen sich, verbringen Zeit miteinander und trennen sich dann wieder. Eine Art von zwangloser Geselligkeit, die auch wir Menschen pflegen, sagt Michael Krützen, «man trifft sich, trinkt zusammen ein Bier, diskutiert und geht dann wieder auseinander». Bei den Delfinen können das dank der offenen Netzwerkstruktur des Beziehungsgefüges Hunderte möglicher Partner sein, mit denen sie im Lauf ihres Lebens interagieren. Bei Schimpansen bilden sich nur geschlossene, wesentlich kleinere Gruppen von 30 bis 40 Tieren.

Im Tierreich sind solche offenen Netzwerke extrem selten. Für Krützen ist klar: Für diese Art komplexer Interaktion braucht es aussergewöhnliche kognitive Fähigkeiten. Sind die Delfine in dieser Hinsicht näher bei uns als die Menschenaffen? Sind sie vielleicht sogar intelligenter? «So weit würde ich nicht gehen», sagt Krützen. «Aber wir sehen: Bei den Delfinen hat sich ein ähnliches Sozialverhalten entwickelt wie bei uns Menschen.» Und, natürlich, sie gehören zu den intelligentesten Lebewesen auf unserem Planeten. Krützen: «Die Evolution hat drei kognitive Spitzen hervorgebracht: Elefanten, Zahnwale, zu denen die Delfine gehören, und die Primaten.» 

Was uns von den Delfinen, Elefanten und den anderen Primaten unterscheidet: Wir haben kumulative Kultur und Sprache. Das heisst, anders als die meisten Tiere können wir unsere kulturellen Errungenschaften an die nächste Generation weitergeben und so weiterentwickeln, vor allem dank unserer komplexen Sprache.

Genug Nahrung, wenig Stress

Das komplexe Sozialverhalten der Delfine in der Shark Bay dürfte auch den speziellen Lebensverhältnissen geschuldet sein. Denn die Bucht ist sehr fisch­reich. Die Delfine haben stets genug Nahrung und keinen Druck abzuwandern. Sie verbringen deshalb ihr ganzes Leben in der Shark Bay. Das hat Vorteile: «Die Tiere brauchen wenig Zeit und Energie zur Nahrungssuche und haben deshalb mehr Zeit für Geselligkeit», sagt Krützen. Diese Kombination aus wenig Stress und vielen Sozialkontakten macht die Delfine wahrscheinlich auch ­intelligenter.

Michael Krützen zieht dazu einen Vergleich mit den Orang-Utans auf Borneo und Sumatra: «Die Affen auf Sumatra leben in grösseren Gruppen und sind cleverer, wenn es darum geht, Aufgaben zu lösen. Sie haben wohl auch ein grösseres Gehirn.» Das habe mit den Umweltbedingungen zu tun, ist Krützen überzeugt: Die Orang-Utans in Sumatra haben wie die Delfine in der Shark Bay Nahrung im Überfluss, während sich ihre Artgenossen auf Borneo auf harschere Umweltbedingungen einstellen müssen wegen der Trockenperioden von zwei bis drei Jahren mit entsprechend knapper Nahrung. «Unsere genomischen Untersuchungen, die wir 2018 veröffentlicht haben, zeigen sehr schön, welche Gene unter Selektionsdruck stehen», sagt Krützen, «die Affen auf Sumatra können in ihr Gehirn investieren, während jene auf Borneo körperlich robuster sein müssen.» 

Bei den Delfinen dürfte es ähnlich sein. Während jene in der Shark Bay im Schlaraffenland zu Hause sind, müssen solche an weniger günstigen Orten mehr Zeit und Energie in die Nahrungssuche investieren und haben damit weniger Ressourcen für Geselligkeit. Ob diese These zutrifft, will Krützen anhand einer weiteren Population überprüfen, die weiter südlich in Perth lebt. Bisher reichen die Daten dieser Forschung allerdings noch nicht aus, um dazu verlässliche Aussagen zu machen.

Die Forschung an Delfinen und Orang-Utans, die seit Jahrzehnten am Anthropologischen Institut der UZH betrieben wird, zeigt, wie wichtig solche Langzeitstudien sind: «Die Tiere über Generationen beobachten zu können, ist für uns entscheidend», betont Michael Krützen. Dank der Erkenntnisse aus dieser Forschung lässt sich die faszinierende Frage beantworten: Sind die Menschen in ihrem kooperativen Verhalten einzigartig? Lange Zeit lautete die Antwort: Komplexes Sozialverhalten gibt es nur bei Menschen und – weniger ausgeprägt – bei Menschenaffen. Jetzt wissen wir, dass das nicht stimmt. Denn es existiert auch bei Delfinen.

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