Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

150 Jahre Psychiatrische Universitätsklinik Zürich

«Regenwürmer werden nicht schizophren»

Das «Burghölzli» wird 150 Jahre alt. Die psychiatrische Universitätsklinik Zürich blickt auf eine abwechslungsreiche Geschichte zurück. Paul Hoff, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (KPPP), skizziert den historischen Wandel und fokussiert dabei auf das Verhältnis von Arzt und Patient.
Marita Fuchs
Die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich ist ein wichtiger Ort der Schweizer Psychiatriegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Viele berühmte Ärzte haben hier geforscht, gelehrt und Patientinnen und Patienten betreut, darunter August Forel, Eugen Bleuler und Carl Gustav Jung.

 

Herr Hoff, die psychiatrische Universitätsklinik, im Volksmund Burghölzli genannt, feiert in diesem Jahr ihr 150-jähriges Jubiläum. Sie selbst arbeiten als Arzt in der Klinik und befassen sich als Wissenschaftler aus historischer Perspektive mit dem Verhältnis von Arzt und Patient. Was hat sich in dieser Hinsicht über die Jahre verändert?

Paul Hoff: Hinter der Arzt-Patient-Beziehung steht ja immer ein Konzept. Das ist quasi die Folie, auf der der Arzt oder die Ärztin arbeitet. Das Konzept beinhaltet folgende Fragen, die jeder Arzt, jede Ärztin für sich beantworten muss: Was ist ein Patient? Was ist meine Rolle als Arzt? Wie definiere ich eine psychische Krankheit? Die Antworten bilden die Grundlage unserer Arbeit. Die historische Dimension ist nun interessant, weil sie die ideengeschichtliche Tiefe unseres Faches aufzeigt.

Ein Beispiel?

Ich kann das nur sehr verkürzt skizzieren. Während des späten 18. Jahrhunderts – vom Menschenbild der Aufklärung geprägt – wurde der so genannte Geisteskranke als Mensch gesehen, der vorübergehend seinen Verstand verloren hat. Und damit wurde er zu jemandem, dem man helfen musste. Zuvor waren die ‘Verrückten’ zusammen mit den Kriminellen in Gefängnissen untergebracht. Die damals neu eingerichteten psychiatrischen Anstalten gingen einher mit dem Aufkommen der Psychiatrie als Fach der Medizin. Später dann, in der Zeit der Romantik, interessierte man sich verstärkt für affektive Ausnahmezustände. Das Arzt-Patient-Verhältnis wurde nun auch zum Thema, vor allem der emotionale Aspekt.

Ende des 19. Jahrhunderts wiederum lag der Schwerpunkt auf der Gehirnforschung, psychische Krankheiten galten als Gehirnkrankheiten. Beziehung und Subjektivität spielten wissenschaftlich eine geringe Rolle, das prägte natürlich auch das Verhältnis der Ärzte zu den Patienten, die eher als Objekte betrachtet wurden. Nicht zuletzt durch Sigmund Freud änderte sich das. In seiner Psychoanalyse stand die Beziehung im Mittelpunkt, nicht als Ziel sondern als Mittel zum Zweck. In der Beziehung entstanden Erkenntnisse, die dann den Patientinnen und Patienten weiterhalfen, über ihre Blockaden hinwegzukommen.

Paul Hoff
Paul Hoff, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Etwa zeitgleich kam die Eugenik auf, und zwar vor dem Hintergrund der damals in Wissenschaft und Gesellschaft weit verbreiteten Degenerationstheorie. Sterilisationen und Kastrationen im Kontext psychischer Krankheiten wurden breit diskutiert und, von Ort zu Ort verschieden häufig durchgeführt, auch in der Schweizer Psychiatrie.

Nach dem zweiten Weltkrieg und der katastrophalen Verstrickung der Psychiatrie in die Verbrechen des Nationalsozialismus gab es eine Strömung, die anthropologische Psychiatrie, die sehr von Philosophen wie Jaspers, Binswanger, oder Heidegger beeinflusst war. Sie wirkt noch heute nach, auch wenn die Originaltexte wegen ihrer schwierigen Lesbarkeit kaum noch rezipiert werden. In dieser Sicht hängen psychische Erkrankungen eng mit der «conditio humana» zusammen: Salopp gesagt: Regenwürmer werden nicht schizophren. Die Bedeutung der anthropologischen Einstellung für die gegenwärtige Psychiatrie liegt in ihrem wesentlichen Anliegen: Der Besinnung auf den Kranken als Individuum und auf die existentielle Dimension seines psychischen Krankseins.

Was bedeutet das für das Verhältnis von Arzt und Patient heute?

Das Problem hat nach wie vor zwei Seiten. Der Patient kommt in die Arztpraxis, er ist verunsichert, es geht um seine Gesundheit, mit das Wichtigste im Leben. Der Arzt hat das Wissen und damit eine Autoritätsposition. Diese Asymmetrie muss auf eine faire und medizinisch gute Art aufgelöst werden. Besonders wichtig ist das in der Psychiatrie und Psychotherapie.  

Warum gerade dort?

Bei einem entzündeten Blinddarm ist die Sachlage schnell klar und überschaubar. Aber in der Psychiatrie ist es oft komplizierter. Wenn ein Patient sagt, es gehe ihm schlecht, seine Freundin habe ihn verlassen, weil er arbeitslos sei, er sei nichts wert und wolle nur noch sterben, dann ist das „Objekt“ der Therapie nicht so leicht zu definieren. Es geht um die ganze Person, um ihre Lebensgeschichte, ihre Ängste, aber auch um die aktuelle Situation.

Muss der Arzt oder die Ärztin in so einem Fall besonders empathisch sein?

Hier ist man sofort beim Nähe-Distanz-Thema. Ist der Arzt zu distanziert, irritiert das den Patienten und löst Ängste aus. Auch das Gegenteil, die unkritische Nähe, schafft Probleme: Zwar wird der Patient die persönliche Nähe zweifellos schätzen. Wird sie aber zum tragenden Element der Behandlung, so nützt dies wenig. Wirksame Behandlung und unkritische Empathie sind nicht miteinander vereinbar. Es ist wichtig, eine Balance zu finden, und das muss jeder Arzt, jede Ärztin auf seine und ihre persönliche Weise bewerkstelligen.

Wie geht er oder sie am besten vor?

Ich plädiere für die Diagnose als Dialog. Das mag ein plakativer Begriff sein, aber er zielt auf die Praxis: Krankheitsbegriffe sind letztlich Konstrukte. Wenn eine Person an einer Schizophrenie leidet, so wird diese nicht herausoperiert mittels Psychotherapie oder Medikamenten, sondern Patient und Arzt sind im Dialog. Sie sind aktive und gleichberechtigte Beteiligte bei Diagnose und Therapie.

Weiterführende Informationen

Weitere Informationen