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Vor zwei Jahren trat Jordan Belfort in Zürich auf. Viele Schweizerinnen und Schweizer pilgerten zu ihm in die Samsung-Halle am Stadtrand. Dort erklärte der ehemalige US-Börsenmakler seinem Publikum, wie im Aktienhandel schnelles Geld gemacht werden kann. Jordan, damals in seinen Zwanzigern, hat in den späten 1980er-Jahren ein Millionenvermögen angehäuft. Und dies, wie sich später zeigte, auf unsaubere Weise. 1998 wurde er wegen Wertpapierbetrugs und Geldwäscherei zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.
Seit seiner Entlassung tourt er nun um den Globus und gibt Management- und Verkaufsseminare. Und die Leute gehen hin. Dass der Seminarleiter ein ehemaliger Hochstapler ist, scheint sie wenig zu kümmern. «Der Traum vom Easy Money übt immer noch eine riesige Faszination auf die Menschen aus», sagt Anglistin Barbara Straumann, «das gibt einem, vor allem nach den Erfahrungen der Finanzkrise 2008, schon zu denken.»
Berühmt wurde Jordan Belfort vor allem durch den Kinofilm «The Wolf of Wall Street», in dem Starregisseur Martin Scorsese mit Leonardo DiCaprio in der Hauptrolle sein Leben verfilmte. Denn von der Welt des Geldes und von Financiers fasziniert sind nicht nur Verkäufer und Glücksritter, sondern auch Schriftsteller und Cineasten. «Für sie sind vor allem dubiose Finanzjongleure interessant, weil sie Geschichten produzieren», sagt Barbara Straumann, «sie sind skrupellos, glamourös und verkörpern gesellschaftliche Fantasien vom Reichwerden.»
Das war schon früher so: Fragwürdige Financiers brachten bereits in der Literatur des 19. Jahrhunderts viele Geschichten ins Rollen. In einem gross angelegten Forschungsprojekt analysiert Literaturwissenschaftlerin Straumann nicht nur zeitgenössische Filme wie «The Wolf of Wall Street», sie blickt auch in die Finanzwelten, die in englischen Romanen des viktorianischen Zeitalters (1837–1901) vor den Augen der Leserinnen und Leser ausgebreitet werden.
Am Anfang des Projekts stand die letzte Finanzkrise, die vor allem eine Schuldenkrise war. «Es wurde ein Leben auf Pump ermöglicht», sagt Straumann, «Traum und Albtraum liegen da nahe beieinander.» Und so fragte sich die Anglistin, wie der Traum vom Reichtum und der Albtraum von Schulden in der Vergangenheit in Romanen des 19. Jahrhunderts dargestellt wurden. In der bürgerlichen Gesellschaft, die nach der Französischen Revolution allmählich entsteht, wächst die Vorstellung, dass man nicht wie Adlige durch erben reich wird, sondern es auch durch Arbeit, Fleiss und geschickte Investitionen auf einen grünen Zweig bringen kann. In diesem meritokratischen, bürgerlichen Denken sind viele Romane des englischen 19. Jahrhunderts und mit ihnen ihre Autoren und Leserinnen und Leser verankert. In diesen Erzählungen wird der Financier zu einer zentralen literarischen und gesellschaftlichen Figur. «Er wird von der Gesellschaft verehrt, ja sogar vergöttert, weil er Reichtum verspricht und auf fast magische Weise Geld generieren kann», sagt Barbara Straumann.
Gestalt gefunden haben solche Geldgötter in der Figur von Mr Merdle in Charles Dickens’ Roman «Little Dorrit» (1855–57) und in Augustus Melmott in Anthony Trollopes «The Way We Live Now» (1874). «Beide Romane zeigen eine geldgeile Gesellschaft, die sich selbst bereichern will», sagt Straumann. Deshalb hängen die Menschen auch an den Lippen der Financiers. Allein, die Rechnung geht in beiden Fällen nicht auf: Melmotte verkauft Aktien für eine Eisenbahngesellschaft, die es gar nicht gibt, und auch Mr Merdle macht windige Geschäfte, die Tausende Menschen in den finanziellen Ruin treiben. «In beiden Romanen werden die fehlbaren Financiers moralisch verurteilt, mit ihnen aber auch der gesellschaftliche Geldglauben», sagt Barbara Straumann. Sowohl Mr Merdle als auch Augustus Melmotte nehmen sich schliesslich das Leben.
Andere Zeiten, andere Sitten: Über hundert Jahre später spricht Gordon Gekko alias Michael Douglas seine legendären Worte «Greed is good», «Gier ist gut» in die Filmkamera. Gekko ist die Hauptfigur in Oliver Stones Kinofilm «Wall Street» aus dem Jahr 1987. Die 1980er-Jahre werden in den USA und in England von der Politik Ronald Reagans und Margaret Thatchers dominiert. Sowohl der US-Präsident als auch die britische Premierministerin setzen sich für Neoliberalismus und Deregulierung ein. «Es entstand eine Kultur des extrem ausgeprägten Individualismus», sagt Straumann, «Eigeninteressen standen im Vordergrund.» Dies spiegelte sich in Figuren wie Gordon Gekko und in zahlreichen Texten und Filmen, die in der Folge entstanden.
Ab den 1980er-Jahren entdecken Schriftsteller und Regisseure die Finanzwelt wieder für sich – ein Hype, der bis heute anhält. Im Gegensatz zum 19. Jahrhundert werden in Filmen wie «The Wolf of Wall Street» jedoch kaum noch moralische Urteile gefällt. Im 21. Jahrhundert wird es den Zuschauerinnen und Zuschauern selbst überlassen, ob sie das waghalsige Jonglieren mit Finanzen gutheissen oder nicht.
Dieser Artikel ist im UZH Magazin 3/19 erschienen.