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Träge Zungen

Auch wenn Gletscher mit einer gewissen Verzögerung auf die Klimaerwärmung reagieren: Die Schweiz wird sich auf eine Zukunft ohne die imposanten Eiszungen einstellen müssen. Das wird ihr gelingen – grösser sind die Herausforderungen für asiatische Länder.
Roland Fischer
Hüfigletscher, September 2016 (Daguerreotypie)
Hüfigletscher, September 2016 (Daguerreotypie)


Es ist Frühling. Noch bieten die Berge den typischen Anblick, weissgekrönt, die höheren Lagen im festen Griff von Eis und Schnee. Und auch wenn das Weiss langsam verschwindet im Lauf des Sommers: Die grossen Gletscher werden nie zu fliessen aufhören. So jedenfalls ist es gewissermassen in unserem kollektiven alpenländischen Unterbewusstsein eingeprägt – Gipfel und Gletscher, Fels und Eis. Sieht ganz so aus, als steuerten wir da auf eine kollektive Neurose zu, zu diesem Schluss muss jedenfalls kommen, wer sich mit dem Gletscherexperten Andreas Linsbauer vom Geographischen Institut der UZH unterhält.

Die Bombe platzt gleich zu Beginn des Gesprächs: «Viel retten wird man da nicht können», sagt Linsbauer – die Gletscher ziehen sich längst zurück. Das ist keine überraschende Neuigkeit, was uns allerdings weniger bewusst ist: Gletscher haben eine lange Reaktions- und Anpassungszeit. Es geht etwa fünfzig bis hundert Jahre, bis ein grosser Gletscher sein Gleichgewicht wiedergefunden hat.

Ins Tal kriechen

Gletscher liegen nicht einfach da und schmelzen, sie sind im Fluss. Sie speisen sich aus Niederschlägen weiter oben in ihrem Einzugsgebiet und kriechen langsam die Täler hinunter, wo ihnen dann irgendwo der Schnauf ausgeht. Ihre Trägheit macht sie relativ gleichgültig kurzfristigen Wetterextremen gegenüber – sie strecken ihre Zunge immer etwa gleich weit hinunter, solange sich klimatisch nicht viel ändert. Doch das ist schon seit einiger Zeit nicht mehr so, das spüren die Gletscher. Die Folgen, die wir heute bei den grossen Gletschern beobachten, sind allerdings nicht die Reaktion auf die jetzigen Zustände, sondern sie widerspiegeln die Anfänge des menschgemachten Klimawandels. Linsbauer hat sich als Forscher detailliert mit diesen Dynamiken auseinandergesetzt, mit dem Wasserhaushalt in den Alpen und mit der Berechnung von sich ändernden Gletschervolumen. 

«Momentan suchen alle Gletscher im Alpenraum ein neues Gleichgewicht», sagt Linsbauer – das Resultat dessen, was sie so richtig aus der Balance gebracht hat, sehen wir meist noch gar nicht. Deshalb sind sich die Gletscherforscher einig, dass der Gletscherschwund, wie wir ihn heute beob-achten, bloss ein Vorzeichen für das darstellt, was notwendigerweise noch kommt. Und zwar ganz egal, wie die Weltpolitik den Temperaturanstieg begrenzen wird. «Schöne Talgletscher wird es in den Alpen nicht mehr geben», diagnostiziert Linsbauer. Immerhin: Wenn die Klimapolitik konsequent greift und wir das 1,5 / 2-Grad-Ziel erreichen, dann könnte bis Ende Jahrhundert etwa ein Drittel des Gletscher volumens erhalten bleiben. Man würde die Gletscher also noch finden, weit hinten in den Tälern.

Der sentimentale Wert der Gletscher

Bei einem 4-Grad-Szenario hingegen bliebe nicht mehr viel übrig, höchstens ein paar Eiszungen in hohen Lagen, an den Bergflanken. Klar ist: Was die Alpenmythologie (und die Tourismusindustrie) als «Gletscher» bezeichnet, wird in den nächsten Jahrzehnten nach und nach verschwinden. 

Ist es ein Etikettenschwindel, wenn nun in der Schweiz die Gletscher-Initiative lanciert wird, die die Ziele des Pariser Klimaabkommens von 2015 in der Bundesverfassung verankern will? «Das kann man so sehen», sagt Andreas Linsbauer. Aber er findet es nicht verkehrt, mit Gletschern zu argumentieren, gerade ihres «sentimentalen» Wertes wegen: «Gletscher sind ein Symbol, wir hängen daran.» Wenn ihr Verschwinden dazu dienen kann, die Bevölkerung wachzurütteln, dann findet er den Initiativ-Titel nicht verwerflich. Linsbauer, der nach einem Projekt in Indien heute beim Schweizer Gletschermessnetz (GLAMOS) und in der Sekundarlehrer-Ausbildung arbeitet, plädiert für ein pragmatisches Vorgehen: «Wir müssen wohl zweigleisig fahren, die Emissionen konsequent reduzieren und gleichzeitig Anpassungs- Szenarien entwickeln.» Der Verlust der Gletscher sei für ein Land wie die Schweiz nicht zwingend ein katastrophales Szenario, man habe genügend Ressourcen, um sich den veränderten Bedingungen anzupassen. Der Wasserhaushalt wird zwar ein wenig durcheinandergeraten wenn die Speicherfähigkeit der Gletscher wegfällt, aber die Schweiz muss nicht fürchten, plötzlich zu wenig Niederschlag zu erhalten.

Wie die Pyrenäen

Die schmelzenden Gletscher werden künftig häufiger zu Hochwasser und zu Murgängen, also Schlammlawinen, führen. Die Gefahrenkarten müssen deshalb angepasst werden, und das bereits heute: Wir sollten jetzt schon nicht mehr da bauen, wo es gefährlich werden kann. Ausserdem muss die Stromwirtschaft investieren, denn es wird neue Speicherseen brauchen. «Solange die grossen Gletscher noch da sind, funktioniert die natürliche Speicherfunktion. Doch wir sind daran, das Sparkonto aufzubrauchen», sagt Andreas Linsbauer.

Und der Tourismus? «Den Verantwortlichen ist das Unabänderliche wohl noch nicht so bewusst», meint der Gletscherforscher. Aber auch hier zeichnet er kein Schreckensszenario: «Haben Sie Bilder von den Pyrenäen vor Augen?» Die Alpen werden sich etwa in dieser Richtung verändern, was ja nicht bedeutet, dass sie weniger attraktiv sind. Etwas weniger majestätisch vielleicht.

Andreas Linsbauer weiss aber auch, dass es Länder gibt, die diese Anpassungen nicht so ohne weiteres schaffen werden. In Indien hat er für ein Projekt gearbeitet, das Gegenden zu unterstützen versuchte, in denen die Gletscher eine existenziellere Bedeutung haben als bei uns. «Viele Gebiete in Zentralasien haben weit weniger Möglichkeiten zur Anpassung als wir hier in der reichen Schweiz.» Darauf angesprochen, welche Lösungen sich anbieten, bleibt Linsbauer still. Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie gross die Probleme sind.

Der Versuch, mit einer entschiedenen Klimapolitik die Gletscher doch noch zu retten, hilft also nicht in erster Linie Ländern wie der Schweiz. Davon profitieren könnte vor allem ein Teil der Weltbevölkerung, der Hilfe sowieso am nötigsten hat.