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Eine Chance für Kinder mit Herzfehler

Herzkranke Kinder zeigen Entwicklungsverzögerungen, die besonders in der Schule auffällig werden. Entwicklungspädiaterin Bea Latal will mit einem speziellen Förderprogramm diese Kinder in der Adoleszenz unterstützen.
Marita Fuchs
Bei einem Treffen herzkranker Kinder im Kinderspital: Der Clown erklärt dem Kind wie das Herz schlägt.

 

Marie kam mit einem schweren Herzfehler zur Welt. Die linke Herzkammer war zu klein, zwei Herzklappen stark verengt, so dass das Herz nicht arbeiten konnte. Kurz nach der Geburt musste Marie daher im Kinderspital Zürich operiert werden. Operationen am Kinderherzen sind immer eine besondere Herausforderung, ist das Herz eines Neugeborenen doch nur zwei Zentimeter gross, etwa so gross wie eine Zwetschge.

In der Schweiz leben etwa 30’000 Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern, die meisten haben keine oder nur leichte Beschwerden. Schwere Herzfehler wie bei Marie sind hingegen seltener. Bei 80’000 Geburten im Jahr ist eines von 100 Kindern von einem Herzfehler betroffen. 200 bis 300 Kinder kommen mit einem schweren Herzfehler zur Welt.

Marie ist inzwischen 10 Jahre alt. Ihre Eltern machen sich häufig Sorgen. Kaum war die Operation überstanden, kamen Ängste, ob sich das Kind normal entwickle. Es sollte sich auf keinen Fall überanstrengen und trotz allem eine glückliche Kindheit haben. Im Kindergarten und in den ersten beiden Schuljahren konnte Marie mithalten. Doch spätestens in der dritten Klasse zeichneten sich Probleme ab. Marie konnte ihre Aufgaben nicht so gut planen, Merkfähigkeit und Arbeitstempo waren weniger ausgeprägt wie bei den Mitschülerinnen und -schülern.

«Diese so genannten exekutiven Funktionen haben nichts mit dem IQ zu tun», erklärt Bea Latal, Entwicklungspädiaterin am Kinderspital Zürich. «Die Kontroll- und Regulationsprozesse, die ein schnelles, zielorientiertes und situationsgerechtes Denken und Handeln ermöglichen, sind bei vielen Kindern, die mit schwerem Herzfehler auf die Welt kommen, noch nicht gut ausgereift oder beeinträchtigt».

Mangelnde Konzentration

Bea Latal muss es wissen. Seit 10 Jahren begleitet sie in Zusammenarbeit mit der Abteilung Kardiologie wissenschaftlich eine Kohorte von 200 Kindern, die mit einem schweren Herzfehler auf die Welt kamen und am Kinderspital Zürich behandelt wurden. Marie ist eines von ihnen. Latal hat alle Kinder von Geburt an untersucht und viele Daten über den individuellen Entwicklungsstand gesammelt. Die Kinder wurden danach im Alter von einem, vier, sechs und zehn Jahren wiederholt untersucht. Die letzten Tests zeigten bei vielen der Kindern ein Manko bei den sogenannten exekutiven Funktionen, sagt die Forscherin. Ein Manko, das in der Vorschulzeit nicht weiter ins Gewicht falle, das sich in der Schule aber nachteilig auswirke.

Marie zum Beispiel lässt sich gern ablenken. Obwohl sie eine Klassenarbeit schreiben muss, achtet sie mehr darauf, was ihr Pultnachbar macht oder was draussen passiert. Es fehle ein gewisses Beharrungsvermögen und Konzentrationsfähigkeit bei der Lösung von Aufgaben, sagt die Lehrerin.

Bea Latal weiss von ihrem Doktorvater Remo Largo, dass viele Daten einer grossen Kohorte enormes Forschungspotential bergen.

Adoleszenz als Chance

Doch was sind die Ursachen? Früher habe man Verzögerungen in der Entwicklung auf die schwere Herzoperation kurz nach der Geburt zurückgeführt, erklärt Latal. Doch heute wisse man, dass dies nicht der Grund sei: Bereits während der Schwangerschaft lasse sich beim Fötus eine Unterversorgung bestimmter Hirnregionen  feststellen.

Kann man gegen diese Unterversorgung etwas tun? Vorgeburtliche Massnahmen wie etwa die zusätzliche Zufuhr von Sauerstoff über die Mutter während der Schwangerschaft werden derzeit in ersten klinischen Studien getestet. Ob sie erfolgreich sind, ist noch offen. Latal setzt deshalb eher auf das Training der exekutiven Funktionen.

Die 200 Kinder der Kohorte, die sie untersucht, sind jetzt 10 Jahre alt. Latal sieht die Umbruchphase, die mit der Frühadoleszenz eintritt, als Zeitfenster, das viele Möglichkeiten eröffnet. Man weiss aus der Forschung, dass das Gehirn von Jugendlichen sehr plastisch ist. Warum nicht die Gelegenheit nutzen und jetzt mit gezielten Übungen die exekutiven Funktionen fördern?

Zielgerichtet spielen

In einer neuen, interdisziplinär angelegten Studie, die für vier Jahre vom Schweizer National Fond (SNF) unterstützt wird, will Latal nun bei den Kindern die exekutiven Funktionen im Detail untersuchen und auch fördern. Fortschritte in der Hirnentwicklung sollen in der zerebralen Kernspintomographie gemessen werden. Ein noch zu entwickelndes Übungsprogramm soll die Kinder anregen, gezielt ihre Aufmerksamkeit und exekutiven Defizite zu trainieren. «In diesem Alter sind die Kinder auch besonders motiviert mitzumachen», sagt Latal. Denn sie wollen genau so sein wie ihre Kolleginnen und Kollegen.

Das zu entwickelnde Förderprogramm verfolgt methodisch einen spielerischen Ansatz. So arbeiten die Schweizer Forschenden mit einer Spezialistin der Universität Berkeley zusammen, die Spiele zur Förderung der exekutiven Fähigkeiten entwickelt. Spannende Computerspiele können dabei helfen, die Konzentrationsfähigkeit zu verbessern. «Am besten wäre ein Spiel, dass in einer Gruppe mit anderen Kindern gespielt werden könnte», schwebt Latal vor, die jetzt noch am Anfang dieser Forschung steht.

Und Bea Latal wäre nicht Bea Latal, wenn sie gleichzeitig nicht auch noch vorhätte, Daten zu Stressverhalten und Resilienz aufzunehmen. Schliesslich weiss sie von ihrem Doktorvater, dem bekannten Entwicklungspädiater Remo Largo, dass viele Daten einer grossen Kohorte enormes Forschungspotential bergen und auch für Folgeprojekte wichtig werden können.