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Er habe zwar aufgehört zu rauchen, doch das Internet werde er wohl nie aufgeben können, gesteht ein User des Internetforums «reddit» in einem humorvollen Textbeitrag. Seine Worte finden grossen Zuspruch von anderen Nutzerinnen und Nutzern in Form von Likes und Kommentaren. Offenbar hat er einen Nerv getroffen: Eine deutsche Studie des Menthal-Balance Projekts mit über 60‘000 Teilnehmenden zeigt, dass Nutzerinnen und Nutzer täglich durchschnittlich rund 88 Mal aufs Handy schauen. Andere Studien geben sogar noch viel höhere Zahlen an.
«Die vielfältigen positiven Möglichkeiten des Internets sind heute nicht mehr wegzudenken», sagt Edna Grünblatt, Leiterin des Labors für Translationale Molekularpsychiatrie an der Universität Zürich. «Doch im Hinblick auf die Nutzung zeigen sich gewisse beunruhigende Tendenzen, die Gesellschaft, Klinik und Forschung hellhörig werden lassen.»
Denn bei vielen Menschen, kippt die Internetnutzung ins Problematische: Zwanghaft kontrollieren sie etwa soziale Medien, sie spielen bis tief in die Nacht hinein oder konsumieren in hohem Masse pornografische Inhalte. Die Dosis macht das Gift, wie Paracelsus schon sagte.
«Immer mehr junge Menschen, die unsere Kliniken aufsuchen, weisen einen auffälligen Internetkonsum auf», sagt Susanne Walitza, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Zürich. Oftmals handle es sich dabei etwa um Begleiterscheinungen von psychischen oder neurologischen Störungen wie Depressionen oder ADHS.
Doch ein exzessiver Internetkonsum kann selbst auch physische und psychische Störungen begünstigen und sogar verursachen: Wer etwa durch stundenlanges Zocken die Nacht zum Tag macht, kann an Schlafstörungen und ausgeprägter Tagesmüdigkeit leiden. Diese wiederum können die mentale Gesundheit beeinträchtigen, Haltungsprobleme begünstigen oder auch zu Herz-Kreislauf-Beschwerden führen.
Doch wo ist die Grenze? Ab wann wird zu viel gezockt, wann zu häufig auf Instagram geschaut? Wann wird der Internetkonsum zum Problem? «In der Festlegung dieser Abgrenzung liegt die Herausforderung», erklärt UZH-Neurowissenschaftlerin Edna Grünblatt. «Denn das Phänomen der problematischen Internetnutzung und deren Auswirkungen sind noch nicht genügend erforscht», sagt Grünblatt. Zudem wisse die Forschung nur wenig darüber, welche Menschen besonders anfällig auf problematische Internetnutzung sind und welche nicht. Auch bei der Therapie bleiben noch einige Fragen offen.
Während etwa Spielsucht von der Weltgesundheitsorganisation WHO als Krankheit klassifiziert wird, ist dies bei problematischer Internetnutzung nicht der Fall. Denn nicht alle Ausprägungsformen überschreiten etwa die Diagnoseschwellen, die für eine genaue Kategorisierung erforderlich sind.
«Problematische Internetnutzung» oder weiter gefasst «Problematische Mediennutzung» dient den Forschenden darum als Schirmbegriff für verschiedene Verhaltensweisen. Viele Fragen sind jedoch noch offen: Wie tritt problematische Internetnutzung in Erscheinung? Welche Rollen spielen Geschlecht, Alter und kultureller Hintergrund? Finden sich entsprechende Hinweise für genetische Veranlagungen? Wie sehen geeignete Behandlungsansätze aus? Diesen und weiteren Fragen wollen Grünblatt und Walitza in einem von der Europäischen Union finanzierten Forschungsnetzwerk nachgehen.
Das «European Network for Problematic Usage of the Internet» zählt rund 31 Mitgliedstaaten und ist das weltweit grösste derartige Netzwerk. Sein Ziel ist es, spezialisiertes Wissen und Forschung europaweit zu verknüpfen und so die vielfältigen Aspekte problematischer Internetnutzung zu durchleuchten. Dabei werden Klinikerinnen und Kliniker mit Forschenden aus verschiedenen Disziplinen wie Neurowissenschaften, Genetik und Informatik miteinander vernetzt.
Der Schwerpunkt des Netzwerks liegt dabei auf die Erarbeitung eines besseren Verständnisses der problematischen Internet- und Mediennutzung. Dazu gehören etwa geeignete Massnahmen zur Diagnostizierung und Behandlung des Verhaltens von Menschen unterschiedlichen Alters oder kultureller Herkunft.
Die Universität Zürich ist an mehreren Teilprojekten des Netzwerks beteiligt. Die Neurowissenschaftlerin Edna Grünblatt etwa untersucht genetische Ursachen. Sie identifiziert sogenannte Biomarker – besondere Merkmale im Erbgut oder physiologische Charakteristiken eines Menschen, die als Indikatoren für eine Krankheit dienen können. Insbesondere hat sich dabei gezeigt, dass problematische Internetnutzung und verschiedene psychische Erkrankungen gemeinsame genetische Risikofaktoren haben.
«Kennen wir die genetischen Hintergründe der Erkrankung und die miteinwirkenden Umweltfaktoren, begünstigt dies die Früherkennung und die Therapie», erklärt Grünblatt. Die Forscherin will zudem erforschen, ob Medikamente, die bei der Behandlung ADHS eingesetzt werden, auch zur Behandlung von exzessiver Internetnutzung sinnvoll wären.
Susanne Walitza wiederum legt ihr Augenmerk auf die Diagnose und Behandlung von Internet- und Mediensucht in Kombination mit anderen psychischen Störungen. Insbesondere Online-Spiele hätten das Potenzial, Spielerinnen und Spieler abhängig zu machen, sagt Walitza. So würden die Entwickler von Spielen wie dem aktuell beliebten «Fortnite» oder dem Klassiker «World of Warcraft» neben dem Spielspass auch einfache Konditionierungsstrategien anwenden, um Gamer zu binden.
Dazu gehören Extrapunkte für häufiges Einloggen oder Spezialevents an bestimmten Tagen, die Spielerinnen und Spieler mit besonderen Gegenständen locken. Zudem haben diese Spiele oftmals kein eigentliches Ende, sondern bieten ständig neue Herausforderung und neue Levels. Sie erlauben den Spielerinnen und Spielern auch, sich einen eigenen Avataren nach dem eigenen Idealbild zu erschaffen
«Verliert man sich so tief in diesen virtuellen Welten, dass man seine Umwelt vergisst, wird die eigene Sozialkompetenz in der realen Welt kaum weiterentwickelt», sagt Walitza. In der Therapie müssen dann die Sozialkompetenzen wieder neu erworben werden.
Walitza und Grünblatt plädieren dafür, bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen wie Angst, ADHS und Depressionen den Internetkonsum nicht aussen vor zu lassen: «Oft wird nur die Kernerkrankung behandelt in der Hoffnung, dass damit auch die Begleiterscheinungen zurückgehen.» Dabei ist nicht zu unterschätzen, dass beispielsweise der durch Internetsucht verursachte Schlafmangel sowie Depressionen sich wechselseitig verstärken können.
Das zeigt sich zum Teil ebenfalls an den Vorabklärungen von neueintretenden Patientinnen und Patienten: Fragebogen erkundigen sich meist nur am Rand nach dem Internetkonsum der Eintretenden. Hingegen wird nun etwa in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der UZH der Medienkonsum der Patientinnen und Patienten ebenfalls genau erfragt.
Die innerhalb des Netzwerks gewonnen Einsichten sollen zu neuen Diagnose- und Therapieansätzen führen, die nach und nach in der Klinik Einzug halten werden. Neueste Erkenntnisse des Netzwerks auf der Website internetandme.eu veröffentlicht.
Will man den eigenen Internetkonsum etwas genauer unter die Lupe nehmen, stehen vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung. Manche Plattformen wie etwa Instagram bieten ihren Nutzerinnen und Nutzern die Möglichkeit, die eigene Aktivität aufzuzeichnen. Die Software weist dann darauf hin, wenn eine vorher definierte Schwelle überschritten wurde und man beispielsweise zu viel Zeit auf der Plattform verbringt.
Weiter gibt es auch designierte Apps für Mobiltelefone, Tablets und Computer, die Zugriff auf verführerische Apps ganz verweigern. Solche Lösungen lassen sich etwa unter dem Stichwort «Digitale Balance» in Appstores finden. Wichtiger Indikator für problematische Verhalten sind, verändertes Freizeitverhalten, und Vernachlässigen von Aktivitäten wie Sport, oder dem Zusammensein mit Familie und Freunden.