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«Wirtschaft funktioniert nicht ohne Geschichte und Geschichte versteht man nicht ohne Wirtschaft», ist Sofie Gollob überzeugt. Deshalb war der Studiengang Wirtschaftsgeschichte genau das Richtige für sie: Er ermöglicht Studierenden, sich nicht nur mit herkömmlicher, meist sozialgeschichtlich geprägter Wirtschaftsgeschichte auseinanderzusetzen, sondern gibt ihnen auch die Werkzeuge der Wirtschaftswissenschaften in die Hand.
Eine derart vergrösserte Auswahl an Ansätzen, Modellen und Methoden hilft Wirtschaftshistorikern und Wirtschaftshistorikerinnen dabei, durch schlaue Umwege versteckte historische Datenquellen zu erschliessen und zu nutzen. Das ist besonders wichtig, wenn offizielle Statistiken oder spezifische Aufzeichnungen fehlen. Dann helfen möglicherweise private Aufzeichnungen weiter. Oder literarische Quellen liefern Hinweise auf wirtschaftliche Verhältnisse früherer Zeiten.
Zusätzlich gibt es auch die Möglichkeit, quantitative Daten auszuwerten: Etwa Körpergrösse und Gewicht von früher lebenden Menschen. Solche Messwerte werden etwa bei Aushebungen von Soldaten oder in Geburts- und Sterberegistern festgehalten. Mit geeigneter Methodik ausgewertet, können sie dazu beitragen, das Wirtschaftswachstum vergangener Zeiten zu rekonstruieren.
«Wirtschaftsgeschichte ermöglicht ein breites Verständnis dafür, wie Wirtschaft und Gesellschaft interagieren», ist Studienleiter Matthieu Leimgruber überzeugt. «Und sie hilft auch einzuordnen, was heute geschieht» Der Genfer kam 2015 als neuer Co-Studienleiter an Bord des 2010 von Jakob Tanner, emeritierter Geschichtsprofessor, und Ulrich Woitek, Professor für Ökonomie, initiierten Studienganges.
Seither hat Leimgruber den Studiengang mit ganz viel «Leidenschaft und Engagement» weiterentwickelt. Dabei hat er auch die Studierenden nach ihren Bedürfnissen gefragt. Ganz wichtig ist ihm, in seinen Lehrveranstaltungen nicht nur Theorie zu vermitteln, sondern mit den Studierenden «hands-on» zu forschen.
Das Resultat überzeugt offenbar. Gollob jedenfalls ist begeistert vom spezialisierten Masterprogramm: «Ich würde sofort wieder dasselbe studieren.» Obwohl sie Wirtschaftsgeschichte neben allgemeiner Geschichte im Nebenfach studiert hat, fühlt sie sich heute klar als Wirtschaftshistorikerin. Ihre Masterarbeit hat sie über die Firmengeschichte von Landis & Gyr geschrieben.
Besonders gefallen hat ihr, dass sie während des interdisziplinären Studiums auch Theorien, Modelle und Methoden der Wirtschaftswissenschaften kennengelernt hat. Gerne hätte sie sich damit – speziell mit Statistik – noch intensiver auseinandergesetzt und auch Lehrveranstaltungen der Wirtschaftswissenschaftler besucht. Studientechnisch war das allerdings nicht möglich.
Ebenfalls geschätzt hat die ehemalige Studierende auch, dass, obwohl das Programm auf Schweizer Wirtschaftsgeschichte fokussiert, via Dozierende auch Einblicke in die Forschung anderer Universitäten und Länder möglich waren. Sie hätte sich allerdings gewünscht, dass die Philosophische Fakultät die Mobilität der Studierenden stärker fördern würde.
In den letzten Jahren hat sich die Studierendenzahl des MA Wirtschaftsgeschichte bei rund 45 Haupt- und Nebenfachstudierenden eingependelt. Dass der interdisziplinäre Studiengang heute so gut läuft, schreibt Leimgruber vor allem dem Umstand zu, dass sich die Dozierenden sehr stark für den interdisziplinären Studiengang einsetzen.
Wesentlich sei auch, dass die Beteiligten persönlich sehr gut zusammenarbeiten. Namentlich die Kooperation mit dem zweiten Studienleiter, Ökonomieprofessor Woitek, funktioniere ausgezeichnet. Diese Zusammenarbeit erachtet Leimgruber auch als entscheidend für die Zukunft des ganzen Studiengangs.
Auch den direkten Kontakt mit den Studierenden findet Leimgruber wichtig: «Ich kenne fast alle Studierenden persönlich», erklärt er. Die Ressourcen seien aber beschränkt. Viel mehr als 50 Studierende könnte das Team bei gleichbleibender Betreuungsqualität mit den vorhandenen Mitteln nicht bewältigen.
Optimierungsmöglichkeiten sieht Leimgruber vor allem bei administrativen Hürden. Als Beispiele nennt er Einschränkungen bei der Fächerwahl oder auch beim Co-teaching.
Zwei Drittel der Studierenden des spezialisierten Masters sind Historikerinnen und Historiker. Der letzte Drittel setzt sich vorwiegend aus Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern und anderen Studierenden der Philosophischen Fakultät sowie einigen wenigen Ökonominnen und Ökonomen zusammen. Gegenwärtig studieren mehr Männer als Frauen Wirtschaftsgeschichte. Das Fach ist keines von denen, die eine sichere Karriere versprechen. Leimgruber ist überzeugt: «Unsere Studierenden wählen den Studiengang aus Interesse.»
Ebendieses Interesse ist auch die treibende Kraft für Gollob. «Ich fühle mich sehr privilegiert, dass ich mich so intensiv mit Dingen beschäftigen darf, die mich ganz einfach faszinieren.» Obwohl sie momentan keine akademische Karriere anstrebt, arbeitet sie seit April 2019 an einer Dissertation über das Wirtschaftswachstum in der Schweiz im 19. Jahrhundert. Damit bekommt sie nochmals die Chance in die Wirtschaftswissenschaften einzutauchen: Das SNF-Forschungsprojekt, in dem auch Ökonomen und Ökonominnen mitarbeiten, ist am Chair for Economic History angesiedelt.
Neben der Neugier auf die Inhalte und der Freude, Geschichte mit ökonomischen Theorien zu verknüpfen, gibt es noch etwas anderes das Gollob motiviert: Ihrer Meinung nach ist es fundamental, wirtschaftliche Prozesse zu verstehen, um in der gesellschaftlichen Debatte eine Stimme zu haben. Und genau das ist ihr Ziel: «Ich möchte etwas zu sagen haben, weil ich die Materie verstehe», sagt sie.
Gollob hofft, dass sich insbesondere Frauen in Zukunft nicht mehr vom Begriff Wirtschaft abschrecken lassen: «Ich wünsche mir, dass Frauen über Wirtschaft Bescheid wissen und, dass sie dadurch auch ernster genommen werden.»