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Reich zu sein bedeutet nicht in allen Epochen dasselbe. Und Gerechtigkeit ist eine Frage der Sichtweise. Im Podiumsgespräch über Reichtum und Chancengerechtigkeit im Restaurant Uniturm richtete Mittelalter-Historiker Simon Teuscher den Blick in die Tiefen der Geschichte. Und stellte dabei klar: Fortschritt bedeutete niemals Fortschritt für alle.
Als Beispiel führte er an, dass es in Feudalgesellschaften, in denen Reichtum und Einfluss von vererbten Privilegien abhingen, mehr Frauen in Machtpositionen gab als in den bürgerlichen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts, die zwar stolz unter dem Banner von «Liberté» und «Egalité» segelten, zugleich aber den Entfaltungsspielraum der Frauen radikal einschnürten.
Gesellschaftliches Selbstverständnis und gesellschaftliche Realität sind eben nicht immer dasselbe. Und so kann man sich mit Simon Teuscher fragen, ob eine Gesellschaft wie die der Schweiz, in der grosse Teile der Privatvermögen auf Erbschaft beruhen, den Namen «Leistungsgesellschaft» tatsächlich verdient.
Mehrfach fiel in der von Thomas Gull und Roger Nickl geleiteten Diskussion der Name des französischen Soziologen Thomas Piketty, demzufolge die soziale Ungleichheit in westlichen Industrienationen seit den 1980er Jahren zugenommen hat. Zuvor, in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, war es zu einer Angleichung gekommen. Offenbar war das aber nur eine vorübergehende Phase, eine historischere Ausnahmeerscheinung also.
Der geschichtliche Regelfall scheint eher durch ein Prinzip bestimmt, das in der Soziologie häufig als Matthäus-Effekt beschrieben wird – gemäss dem bekannten Spruch im gleichnamigen Evangelium, der lautet: «Wer da hat, dem wird gegeben».
Das Rennen macht in der Regel also, wer schon einen Vorsprung hat – durch Erbschaften materieller oder immaterieller Natur. Was die Chancengerechtigkeit anbelangt, sagte die Soziologin Katja Rost, dürfe man sich keinen Illusionen hingeben: Die soziale Herkunft sei nach wie vor eine starke Determinante für den beruflichen Werdegang und den gesellschaftlichen Erfolg. So stammten zum Beispiel in der Schweiz noch immer überproportional viele der Kinder, denen der Sprung ans Gymnasium gelingt, aus akademischem Elternhaus.
Wie aber könnte man die soziale Mobilität fördern? Wie könnte man für mehr Chancengerechtigkeit beim Wettlauf nach oben sorgen? Katja Rost machte im Talk im Turm dazu einen Vorschlag. Sie plädiert dafür, bei der Besetzung einflussreicher Positionen innerhalb eines Pools geeigneter Kandidierender das Los entscheiden zu lassen.
Der Vorteil des Losverfahrens sei, dass es die Macht von Seilschaften dämpfe. Ausserdem seien Verantwortungsträger, die durchs Los bestimmt worden seien, bescheidener als jene, die durch konventionelle Leistungswahl eine begehrte Stelle ergattert hätten. Letzteres konnte Katja Rost in einem Laborexperiment nachweisen.