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Christoph Kolumbus kehrt 1493 von seiner zweiten Expeditionsreise zurück. Die Heimfahrt ist mühsam, vielen Männern der Crew geht es schlecht. Der spanische Arzt Ruy Díaz de Isla untersucht ihr Leiden und notiert: «Furchterregend und grausam, beschädigt das Fleisch, bricht und zerstört die Knochen, schneidet und schrumpft die Sehnen.» Es ist die erste Beschreibung von Syphilis-Symptomen. Bald taucht die neue Krankheit in mehreren Hafenstädten des westlichen Mittelmeers auf. Und als der Franzosenkönig Karl VIII. ein Jahr später mit einem 30 000 Mann starken Söldnerheer gegen Neapel zieht, nimmt das Schicksal seinen Lauf.
Karls Soldaten nehmen die süditalienische Stadt ein und feiern ihren Sieg mit den Huren – ein zu jener Zeit keineswegs anrüchiger Zeitvertreib. Doch dann werden die Männer krank und siechen dahin. Geschwächt und stark dezimiert zieht das französische Heer von dannen, die Söldner kehren in ihre Heimatländer zurück – und verteilen so die Krankheit auf dem ganzen Kontinent. Ein halbes Jahrhundert lang wütet in der Alten Welt nun eine Syphilis-Epidemie, bis der Erreger seine hohe Virulenz verliert und die Krankheit weniger heftige Formen annimmt. Tödlich bleibt sie aber weiterhin, denn eine Therapie gibt es nicht.
In der Fachwelt wird gestritten, ob die «Kolumbus-Theorie» wirklich stimmt. Knochenfunde inEngland, Italien und in der Türkei deuten darauf hin, dass es die Syphilis in Europa schon lange vor Kolumbus gab; die ältesten der syphilitischen Gebeine stammen aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Auch Philipp Bosshard, promovierter Mikrobiologe, UZH-Privatdozent und seit elf Jahren Laborleiter der Dermatologischen Klinik am Zürcher Universitätsspital, hat sich mit der Herkunft der Krankheit befasst. Er nahm an einer internationalen Studie teil, die nachgewiesen hat, dass das Ur-Genom der europäischen Syphilis wie wir sie heute kennen tatsächlich nicht älter als Kolumbus ist.
«Gut möglich, dass in Europa lange schon eine Art der Syphilis existierte», sagt Bosshard. «Die Daten deuten aber darauf hin, dass Kolumbus und seine Mannschaft eine neue und weit virulentere Form der Krankheit aus Südamerika eingeschleppt haben.» Bald schon erreichte das Bakterium auch die Schweiz. Philipp Bosshard kennt einen Erlass der Zürcher Regierung von 1496, der heimkehrende Söldner «mit bösen Blattern» erwähnt und die Bevölkerung anweist, Fremde und liederliche Frauen aus der Stadt zu weisen und keine Badehäuser mehr zu besuchen – denn Badehäuser waren nicht nur zum Baden da.
Dass Syphilis eine Geschlechtskrankheit und zudem hoch ansteckend war, wusste man also schon früh. Das ungezwungene Verhältnis zur Sexualität, das die Gesellschaft des Mittelalters geprägt hatte, verwandelte sich in Angst. Die Huren, bis dahin gesellschaftlich anerkannt, waren als Überträgerinnen der neuen Krankheit plötzlich geächtet, und das Misstrauen nistete sich auch in den Ehebetten ein. Das Kondom – es existierte bereits seit der Antike – erlebte einen Aufschwung; aus Leinen oder Seide gefertigt, bot es jedoch kaum Schutz vor Ansteckung. «Die Syphilis trieb einen Keil zwischen Mann und Frau», sagt Bosshard.
Die Kirche nutzte die Gunst der Stunde, sprach von einer Strafe Gottes und predigte Keuschheit. So kam die neue Krankheit – Ruy Díaz de Isla hatte sie vorerst in Anlehnung an eine giftige Schlange «mal serpentino» genannt – zu ihrem endgültigen Namen: 1530 schrieb der Veroneser Arzt Girolamo Fracastoro ein Gedicht mit dem Titel «Syphilis, sive Morbus Gallicus», in welchem Apollo den Schafhirten Syphilius wegen Gotteslästerung mit ebendieser Krankheit bestraft. Auch die Bezeichnung «Morbus Gallicus», also Franzosenkrankheit, hat sich bis heute gehalten; mit ihr spielte Fracastoro auf die Epidemie im Söldnerheer Karls VIII an.
Die Ärzte dichteten nicht nur, sie suchten auch fieberhaft nach Mitteln, um die Kranken zu heilen und die Seuche einzudämmen. Zu Beginn steckten sie Syphilis-Patienten in Schwenkbäder und Schwitzhütten. Bereits 1497 empfahl ein Arzt aus Vicenza die äusserliche Anwendung von Quecksilbersalzen – er ging von einer Hautkrankheit aus. Bald rieb man Patienten grossflächig mit Quecksilbersalben ein, liess sie Quecksilberdämpfe inhalieren oder gab ihnen sogar Quecksilber zu schlucken. Die Kuren vermochten den Krankheitsverlauf tatsächlich zu verlangsamen. Viele Patienten litten und starben dennoch – an den Folgen einer Schwermetallvergiftung. Trotzdem wurde Syphilis noch bis ins 20. Jahrhundert mit Quecksilberpräparaten behandelt.
1905 gelang es erstmals, das Syphilis-Bakterium mikroskopisch aufzuspüren. Dann ging es Schlag auf Schlag. 1906 kam das erste Nachweisverfahren, der nach seinem Erfinder benannte Wassermann-Test: Er erlaubte es, aufgrund der im Blut eines Patienten enthaltenen Antikörper auf das Vorhandensein des Syphilis-Erregers zu schliessen. 1909 schliesslich entwickelte der deutsche Mediziner und Nobelpreisträger Paul Ehrlich das Chemotherapeutikum Salvarsan, das auf dem Gift Arsen basierte. Es war erfolgreich, hatte aber starke Nebenwirkungen. Erst mit der Entdeckung des Antibiotikums Penicillin fand die 450-jährige Suche nach einem wirksamen Medikament ein glückliches Ende. Mit Penicillin war Syphilis – wenn rechtzeitig entdeckt – restlos zu besiegen, und Resistenzen gegen das Wundermittel hat der Syphilis-Erreger bis anhin glücklicherweise noch keine entwickelt.
Doch: «Wenn rechtzeitig entdeckt» – genau hier liegt das Problem, auch heute noch. Denn erstens ist Syphilis von Auge kaum zweifelsfrei zu diagnostizieren, und zweitens lässt sich das Bakterium, das für die Krankheit verantwortlich ist, nicht direkt nachweisen, weil es im Unterschied zu vielen anderen Erregern im Labor nicht kultiviert werden kann. Züchten lässt sich das störrische Bakterium einzig im Hoden eines lebenden Kaninchens. «Diese Erkenntnis hat man früher diagnostisch genutzt», erklärt Bosshard. «Heute macht man das nur noch, wenn man zu Forschungszwecken grössere Mengen des Erregers braucht.»
Als einzige Diagnosemethode bleibt also der indirekte Antikörper-Nachweis, wie ihn August von Wassermann 1906 schon entdeckt hatte. Allerdings: Das Zürcher Universitätsspital hat mittlerweile einen neuen Weg gefunden. Den Forschern um Philipp Bosshard ist es gelungen, einen DNA-Nachweis zu etablieren. Damit lassen sich jene Bakterien identifizieren, welche die kleinen Geschwüre an Patienten der ersten Krankheitsphase bevölkern. Der neue Test funktioniert und ist anwendungsreif. «Der Vorteil ist, dass er sehr schnell geht. Nach 24 bis 48 Stunden ist der Nachweis erbracht», sagt Bosshard. «Der Nachteil ist, dass dieser Test teurer ist als herkömmliche Methoden.»
Bosshards Labor diagnostiziert wöchentlich zwei bis vier neue Syphilis-Fälle. Das sind mehr als zehn Prozent aller Fälle in der Schweiz. Nach der Entdeckung des Penicillins war die Fallzahl schlagartig zurückgegangen, und als Folge der Massnahmen gegen die Ausbreitung von HIV gingen die Ansteckungen weiter zurück. In den 1970er- und 1980er-Jahren sprach niemand mehr von Syphilis, die Krankheit war vergessen. Doch seit der Jahrtausendwende nimmt die Fallzahl wieder zu, und zwar markant. 2006 waren es schweizweit etwa 600 Ansteckungen, 2013 schon fast das Doppelte.
Für das Comeback der Krankheit sieht Philipp Bosshard drei Gründe. Erstens habe HIV dank der heutigen Therapiemöglichkeiten seinen Schrecken verloren, «es ist kein Todesurteil mehr». Dadurch sei man beim Geschlechtsverkehr wieder nachlässiger geworden – man nennt das Kondom-Müdigkeit. Dafür spricht auch, dass Gonorrhoe-Ansteckungen und Chlamydien-Infektionen ebenfalls zugenommen haben. Zweitens sei vielen nicht bewusst, dass Syphilis nicht nur durch «normalen» Geschlechtsverkehr, sondern auch durch analen und oralen Sex übertragen werde, man sich also auch dabei schützen müsse.
Und drittens sieht Bosshard in den vielen neuen Dating-Plattformen im Internet eine gewisse Gefahr. Gerade Apps wie etwa Grindr, die homo- und bisexuellen Männern auf einfache Art Kontaktmöglichkeiten anbieten, können die Verbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten fördern. Rund die Hälfte aller Syphilis-Ansteckungen sind denn auch bei männlichen Homosexuellen zu finden. Was tun? «Sich schützen, wie damals in Zeiten von Aids», sagt Philipp Bosshard. Helfen können auch Aufklärungskampagnen wie die Love-Life-Aktion des Bundesamts für Gesundheit sowie regelmässige Tests bei homosexuellen HIV-Patienten.
Seit 2006 gilt für Syphilis-Ansteckungen wieder die nationale Meldepflicht, nachdem diese aufgrund der rückläufigen Fallzahlen aufgehoben worden war. Die Bemühungen scheinen zu fruchten: 2018 ist die Kurve der Syphilis-Fälle in der Schweiz erstmals leicht abgeflacht; es wurden weniger Ansteckungen verzeichnet als im Vorjahr. Dennoch bleibt Philipp Bosshard am Ball. «Besonders bei der Diagnose besteht noch Verbesserungsbedarf», sagt der Laborleiter. «Syphilis ist diagnostisch extrem knifflig. Genau das macht meine Arbeit so interessant.»
Und mit Schaudern erinnert Bosshard an einen der grössten Skandale der Medizingeschichte, bei dem es unter anderem auch um das Problem der kniffligen Syphilis-Diagnose ging. In Tuskegee, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Alabama, wurden von 1932 bis 1972 rund 400 schwarze und bildungsferne Einwohner mit einer Syphilis-Ansteckung bewusst nicht therapiert, damit Mediziner die Spätfolgen der Krankheit beobachten konnten. Die ahnungslosen Opfer der Studie vertröstete man mit der Diagnose, sie hätten «only bad blood». Die Studie wurde selbst dann fortgesetzt, als Penicillin als wirksames Mittel gegen Syphilis auf den Markt kam. Und sie nahm erst ein Ende, als erstmals Informationen durchsickerten – nach sage und schreibe 40 Jahren.