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14. Jahrhundert in Lissabon: Ein Kartograf – wahrscheinlich der Bruder von Christoph Columbus – zog beim Zeichnen einer Karte die Südspitze Afrikas so weit in die Länge, dass die Umsegelung für etwaige Konkurrenten aussichtslos erscheinen sollte. Und ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit: In Karten der DDR wurden Strassen und Siedlungen im Grenzgebiet ausgelassen, so dass sie für Fluchtpläne unbrauchbar waren.
Angehende Historiker und Historikerinnen sollten lernen, Karten quellenkritisch zu betrachten. Daniel Ursprung, wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Osteuropäische Geschichte der UZH, lehrt in einem vom Lehrkredit unterstützten Projekt den Umgang mit Karten und Kartenmaterial. «Historische Atlanten, so wertvoll sie auch sind, vermitteln häufig ein trügerisches Bild», sagt er. Es gehe darum, den Studierenden bewusst zu machen, welche Wirklichkeit Karten darstellen. «Es ist dabei auch interessant, sich zu fragen, was die Karten nicht zeigen», sagt Ursprung.
Der Historiker ging bei der Planung seines vom Lehrkredit geförderten Projekts «Storytelling with maps: Vom Geschichtsatlas zur Webkarte», davon aus, dass Studierende am besten und nachhaltigsten den Umgang mit Karten erlernen, wenn sie selbst welche zeichnen. «Man muss ein Gespür für den Raum bekommen», sagt er. Heute verstehen wir zum Beispiel unter einer Grenze eine fix limitierte und genau festgelegte Abgrenzung. In früheren Zeiten war das nicht immer so, es existierten auch andere Vorstellungen vom Raum.
«Karten sind Modelle, sie enthalten eine stark abstrahierte Vorstellung der Realität», sagt Ursprung. Mit historischen Daten selbst eine Karte zu zeichnen, zeigt die Probleme. Eine besondere Herausforderung bestehe darin, Daten zu modellieren und mit Unschärfe umzugehen, so etwa Ortsbezeichnungen wie «In der Nähe vom Fluss» oder «Hinter dem Hügel».
Praktische Grundlage war die Arbeit mit einem Geografischen Informationssystem. Mit der Open Source-Software «QGIS» übten die Studierenden Grundlagen des Kartographierens ein. Das Ziel war es, selbständig einfachere Karten zu entwerfen. Die Herausforderung besteht etwa darin, mit Karten Zeitverläufe darzustellen oder narrative Strategien in Kartendarstellungen zu übersetzen, sagt Ursprung.
Ein Beispiel: In einer früheren Lehrveranstaltung entstanden Karten zur Ukraine. Von der Frage ausgehend, warum die Dichte der Sakralbauten in der Westukraine und besonders in der historischen Region Galizien so viel höher ist als in anderen Regionen der Ukraine, lassen sich verschiedene andere Grössen räumlich dazu in Bezug setzen. Dabei werden interessante Korrelationen deutlich: So fallen die Wahlresultate in Galizien in der Regel anders aus als in anderen Regionen der Ukraine. Die kartographische Darstellung dient so als heuristisches Instrument, um Hypothesen herzuleiten, die dann mit klassischen wissenschaftlichen Methoden zu beantworten sind.
Die Ursachen sind historisch begründet: In der Westukraine ist das Erbe des sowjetischen Atheismus weniger stark. Die Region gehörte erst seit 1939/1945 zur Sowjetunion und war zuvor stark geprägt durch die Zugehörigkeit zur Habsburgermonarchie. In national-ukrainischen Kreisen besteht eine traditionell starke Affinität zur Kirche, vor allem der – von den Sowjets verbotenen – griechisch-katholischen Kirche. Auf dieser Grundlage erstarkten die Kirchen nach dem Zerfall der Sowjetunion schnell, während etwa in den intensiver sowjetisch geprägten industriellen Regionen des Donbas das Bedürfnis nach öffentlicher religiöser Repräsentation deutlich geringer ist.
«Durch Visualisierungen mit den Daten können die Studierenden schnell einmal viele Charakteristika eines unbekannten Territoriums erfassen», bilanziert Ursprung. Gerade bei der Beschäftigung mit Osteuropa sei es sehr wichtig, dass die Studierenden eine Vorstellung bekommen von dem Raum, der für sie meist weitgehend unbekannt ist. Ziel des Lehrkredit-Projektes ist es letztlich, ein didaktisches Kartenset zu erstellen, das wichtige quellenkritische und medienspezifische Dimensionen der Darstellung von (Geschichts-) Karten vor Augen führt, indem derselbe Sachverhalt in unterschiedlichen Varianten dargestellt wird. So dienen die Arbeiten als Anschauungsmaterial und Dokumentation.