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Warum Gendermedizin lebenswichtig ist

Frauen und Männer erkranken nicht nur anders, sie reagieren auch unterschiedlich auf Medikamente. Die UZH-Gastprofessorin Vera Regitz-Zagrosek erklärte an einem Referat, wie die Gendermedizin diese Unterschiede erforscht.
Sabina Huber-Reggi
Die Kardiologin Vera Regitz-Zagrosek setzt sich für die Gendermedizin ein, damit alle Menschen optimal behandelt werden.


Als Vera Regitz in den Achtzigerjahren Assistenzärztin in einem deutschen Spital war, wurde an einem Abend eine junge Frau mit einem Herzkreislaufschock eingeliefert. Deren Herz pumpte zwar nicht richtig, doch die Blutgefässe, die das Herz versorgen, die sogenannten Koronargefässe, sahen gesund aus und die Ärzte wussten nicht, wie sie die Frau hätten behandeln können. Nachdem die Patientin noch in der Nacht verstarb, fragte die schockierte junge Ärztin ihren Vorgesetzten, was passiert sei. «Das wissen wir nicht, das verstehen wir nicht. Sie ist eine Frau», antwortete er.

In den folgenden Jahren machte Vera Regitz häufig die Erfahrung, dass Frauen weniger gut auf die Behandlungen ansprachen und dass sie anders als Männer krank wurden. «Mir wurde klar, dass wir unbedingt die Unterschiede zwischen Frauen und Männer erforschen müssen», sagte Vera Regitz zu Beginn ihres Referats im Rahmen der Veranstaltungsreihe Wissen-schaf(f)t Wissen des Zürcher Zentrums für Integrative Humanphysiologie. Professor Vera Regitz ist Anna-Fischer-Dückelmann Gastprofessorin für Gendermedizin an der Universität Zürich und war bis 2019 Direktorin des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité, Universitätsmedizin Berlin.

Übelkeit und Schweissausbrüche statt Brustschmerzen

So entschied sich die Kardiologin, den Schwerpunkt ihrer Forschung auf die Geschlechterunterschiede bei Herzerkrankungen zu setzen. Denn gerade Herzerkrankungen verlaufen bei Frauen häufig anders als bei Männern. Frau Regitz erzählte die eindrucksvolle Geschichte einer jungen Coiffeuse, die während eines stressigen Nachmittags plötzlich eine starke Übelkeit spürte und nicht mehr in der Lage war, weiterzuarbeiten. Die Ärzte beruhigten sie, es sei bestimmt nur eine Magenverstimmung. Doch es wurde nicht besser und erst zwei Wochen später, als ihre Lage mittlerweile lebensbedrohlich war, diagnostizierten die Notfallärzte einen Infarkt an der Herzhinterwand und konnten sie noch rechtzeitig retten.

Das Problem sei, dass sich Herzinfarkte bei etwa einem Drittel der Frauen mit unspezifischen Symptomen wie Übelkeit, Schweissausbrüche oder Erschöpfung ankünden, erklärte Regitz. Die Brustschmerzen hingegen, die bei Männern so typisch sind, stehen nicht im Vordergrund und werden als diffus beschrieben. Zudem werden ein Herzinfarkt oder Brustschmerzen bei vielen Frauen nicht durch verengte Koronargefässe aufgrund von Fettablagerungen verursacht, sondern es handelt sich häufig um eine funktionelle Störung der kleinen Koronargefässe. Bei einigen Frauen neigen die Gefässe bei gewissen Reizen wie Stress oder Kälte zu abnorm heftige Verkrampfungen. «Wir lernen diese Unterschiede erst seitdem wir uns spezifisch mit Frauen und Männern beschäftigen», sagte Regitz.

Warum Frauen und Männer unterschiedlich sind

«Es gibt ganz klar biologische Faktoren, die diese Unterschiede hervorrufen», erläuterte Regitz. So weist jede Zelle einer Frau zwei X-Chromosomen auf, während die Zellen von Männern ein X- und ein Y-Chromosom enthalten. Das X-Chromosom enthält viele Gene, die für die Funktion von Herz, Gehirn, und Immunsystem wichtig sind. Da es in den Zellen der Frauen zwei X-Chromosomen gibt, kann ein defektes Gen mit der Kopie im zweiten Chromosom kompensiert werden. Zudem produzieren Frauen und Männer verschiedene Geschlechtshormone, die unterschiedlich wirken: Männer produzieren viel Testosteron, bei Frauen überwiegt bis zu den Wechseljahren Östrogen.

Doch auch soziokulturelle Faktoren, die wir Gender nennen, spielen eine grosse Rolle, die bis heute häufig vernachlässigt werden. Frauen und Männer werden anders erzogen, sie verhalten sich anders, sie gehen anders mit der Umwelt um, und werden von der Umwelt anders behandelt. Frauen tendieren auch dazu, eine Spitaleinweisung zu verzögern, weil sie denken, dass sie sich um die Familie kümmern müssen. «Wichtig ist auch zu wissen, dass die biologischen und die soziokulturellen Faktoren sich gegenseitig beeinflussen», fügte Regitz an. So beeinflusst der Hormonaushalt unser Verhalten. Umgekehrt beeinflussen die Umwelt und unser Verhalten unsere Biologie. «Viele Umwelteinflüsse wie Rauchen, Feinstaub oder Waschmittel verändern die sogenannte Epigenetik, eine Verpackung unserer DNA, die die Aktivität der Gene beeinflusst», erklärte Regitz. Zudem beeinflusst beispielsweise das Ernährungsverhalten die Bakterienpopulation in unserem Darm. «Das alles führt zu Unterschieden zwischen Männern und Frauen aber auch zwischen einzelnen Menschen», erklärte Regitz.

Die Unterschiede beeinflussen auch die Wirkung von Medikamenten

Die Gendermedizin ist nicht nur in der Kardiologie lebenswichtig, sondern in allen Fachgebieten der Medizin. Auch Medikamente wirken bei Frauen anders als bei Männern. Dies sei nicht erstaunlich, wenn man daran denke, dass beispielsweise Darmbakterien die Aufnahme der Wirkstoffe im Darm und dass Geschlechtshormone deren Verarbeitung und Abbau in der Leber beeinflussen, so Regitz. Zudem nehme bei Frauen die Nierenfunktion im Alter stärker ab, was zur Folge hat, dass die Ausscheidung von Medikamenten durch die Niere langsamer wird. Das hat Konsequenzen für die Gesundheit der Frauen, weil Medikamente häufig vor allem bei Männern getestet werden. Deswegen fordern die Gendermediziner/Innen, dass die Wirkungen und Nebenwirkungen von Wirkstoffen zukünftig in allen Studien geschlechtsspezifisch analysiert und anschliessend unter anderem im Beipackzettel separat aufgeführt werden. Denn aktuell werden die Studiendaten weltweit erst in zwölf Prozent der veröffentlichten Arzneimittel-Zulassungsstudien nach Geschlecht getrennt dargestellt.

Der Weg ist noch lang, aber Vera Regitz gibt auch nach ihrer Pensionierung nicht nach und verfolgt weiterhin das Ziel, die Gendermedizin zu fördern. Dies unter anderem in der Ausbildung der jungen Ärztegeneration, so dass niemand mehr sterben muss, weil Ärzte die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht kennen.