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Im See schwimmen, auf Wanderungen die Füsse im Bach abkühlen oder sich im Fluss treiben lassen. Wir wissen, dass sich Fische um uns tummeln, doch über einen besonderen kleinen Bewohner dieser Gewässer wissen wir wenig: Den Flohkrebs. In naturnahen Gewässern kommt er in grosser Zahl vor und ist dort allgegenwärtig. Der Flohkrebs gehört zu den Amphipoden, eine Ordnung der Krebstiere. Im Schnitt ist er zwischen 2 und 40 Millimetern gross, die gebogene Form erinnert an Speisegarnelen. Flohkrebse fressen Laub und den Biofilm auf Algen oder Steinen. Sie selbst wiederum bilden eine bedeutende Nahrungsgrundlage für Fische. Flohkrebse sind gute Schwimmer. Sinnesborsten an den Beinchen nehmen Wasserströmungen wahr und geben ihm ausserdem Informationen über die Position seiner Beine. Weiterhin haben die Wasserbewohner in den meisten Fällen leistungsstarke Facettenaugen, nur die Höhlenbewohner unter ihnen sind – wie alle Tiere der Finsternis – blind oder sehschwach.
«Flohkrebse sind enorm wichtig für das Ökosystem, weil sie Indikatoren für die Güte und Sauberkeit eines Gewässers sind», sagt Florian Altermatt, Professor am Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der UZH und Gruppenleiter am Wasserforschungsinstitut Eawag. In einem naturnahen Bach sind Flohkrebse in hoher Dichte vorhanden. Sobald die Gewässer verunreinigt sind, beispielsweise durch Pestizide in der Nähe von landwirtschaftlich intensiv bearbeiteten Flächen, sind praktisch keine mehr zu finden. «Trotz ihrer hohen Bedeutung für die Natur, wusste man bisher über die Vielfalt und das Vorkommen der Amphipoden – wie die Flohkrebse wissenschaftlich heissen – sehr wenig», sagt Altermatt.
Diese Forschungslücke sei historisch bedingt, und in der angewandten wie auch in der Grundlagenforschung lag der Fokus vor allem auf einige wenige Arten. Zudem wurden in grossen Biodiversitätsmonitoringprogrammen die Arten nicht unterschieden. Der Ökologe erkannte vor einigen Jahren diese Wissenslücke. Für die Schweiz gab es weder abschliessenden Artenlisten noch Verbreitungskarten, geschweige denn eine Übersicht über die genetischen, morphologischen und funktionalen Unterschiede der einzelnen Flohkrebsarten.
Die ursprünglich in der Schweiz angesiedelten Flohkrebsarten sind im Rhein und im Bodensee stark zurückgegangen. «Leider weiss man relativ wenig, wie die Artgemeinschaften vor 30 oder 40 Jahren ausgesehen haben, geschweige dann noch früher.» Gerade in grösseren Flüssen und Seen habe sich Fauna der wirbellosen Tiere in kürzester Zeit verändert, stellt Altermatt fest. Eingewanderte Arten, so genannte invasive Arten, breiten sich stark aus und verdrängen die einheimischen Flohkrebse. «Es besteht dadurch die Gefahr einer Verarmung der Diversität, was für ein ökologisches Gefüge nicht gut ist», sagt der Biologe. Welche Effekte das auf die Tier- und Pflanzenwelt und schliesslich auch wieder auf den Menschen hat, sei aber nicht einfach zu beantworten.
Mit seinem Projekt «Amphipod.ch» hat Altermatt und sein Team seit 2014 nun Vorkommen und Diversität untersucht und dokumentiert und damit praxisnahe Grundlagen für weitere Forschung geschaffen. Anfang September gab er zusammen mit dem Ökologen Roman Alther vom Wasserforschungsinstitut Eawag sowie den Amphipodenforschern Cene Fišer und Vid Švara von der Universität Ljubljana ein Buch heraus, das Bestimmungsschlüssel, Artmonographien mit ökologischen und faunistischen Erläuterungen, sowie Verbreitungskarten aller Arten enthalten. Es soll als Grundlage dienen für weitere Forschungstätigkeiten und für die Verwendung von Flohkrebsen in Biodiversitätsanalysen, in der Gewässerökologie, im Gewässerschutz und in der Ökotoxikologie.
Für die Oberflächengewässer wie Flüsse, Bäche, Seen oder Grundwasser konnten die Forschenden relativ rasch eine gute Datenbasis mit tausenden von Nachweisen erarbeiten, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Umwelt und den von Bund und Kantonen durchgeführten Überwachungsprogrammen. Insgesamt fanden sie 29 Amphipodenarten. Dazu gehören 16 einheimische und 13 nicht einheimische Arten, eine davon (Orchestia cavimana), die erstmals für die Schweiz gemeldet wurde.
Es gibt jedoch eine grosse Gruppe von Flohkrebsen, die im Wasser unterirdischer Höhlen leben, die Gattung Niphargus. Da das Grundwasser einen grossen Teil des weltweit vorhandenen Süsswassers ausmacht und insbesondere auch in der Schweiz von eminenter Bedeutung ist, durften die höhlenbewohnenden Krebsarten von der Untersuchung nicht ausgelassen werden. Doch wie sollten die Forschenden an diese Flohkrebse herankommen? Es fehlte ihnen an Erfahrung im Bereich Höhlen- und Karstforschung.
«Wir waren auf die Hilfe von Höhlenbegeisterten angewiesen», sagt Altermatt. So warben sie in verschieden Medien für das Projekt und stiessen schnell auf das Interesse vieler Höhlenforscherinnen und -forscher. «Wir stellen handliche Sets mit Netzen, Pinzetten und Alkoholröhrchen für das Flohkrebssammeln zusammen, damit sollte der Fang und das korrekte Konservieren von Proben erleichtert werden», sagt Altermatt. Innerhalb kürzester Zeit erhielt er Dutzende Proben aus unterirdischen Lebensräumen der Schweiz. «Wir profitierten von der guten Vernetzung und dem Interesse der Höhlenforscher».
Proben aus der ganzen Schweiz kamen zusammen. Die Anzahl Proben aus der Höhle des Höllochs im Kanton Schwyz übertraf dann jedoch alle Erwartungen. Das Hölloch ist das zweitgrösste Höhlensystem in Europa, geologisch betrachtet aber relativ jung und nicht älter als drei Millionen Jahre. Und zu ihrer grossen Freude und Überraschung konnten die Forschenden allein in den Proben aus dem Hölloch drei für die Wissenschaft bisher unbekannte Arten von Flohkrebsen finden. Die neuen Arten aus dem Hölloch wurden sowohl aufgrund von morphologischen als auch von genetischen Unterschieden als neue Arten beschrieben. Zwei weitere für die Wissenschaft unbekannte Arten wurden in Grundwasserproben im Berner Oberland und in der Nordostschweiz gefunden.
Da die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Höllochforschung die Proben gesammelt hatten, konnten sie zum Dank die Namen der drei Arten bestimmen: Die bisher nur im Hölloch nachgewiesenen Arten heissen Niphargus styx, benannt nach der Fundstelle Styx (Flanke Jochgang) im Hölloch und der Göttin Styx aus der griechischen Mythologie, Niphargus murimali, ebenfalls benannt nach der Fundstelle unterhalb der Bösen Wand, und Niphargus muotae, benannt nach der Muota und dem Muotatal.
Die drei Arten sind nur sehr entfernt miteinander verwandt, was aus biogeographischer und evolutionsbiologischer Sicht spannend ist. Es bedeutet nämlich, dass sie von drei unabhängig ins Hölloch eingewanderten Vorfahren abstammen. «Zusammengefasst kann man sagen, dass das Hölloch die Niphargidendiversität der Schweiz bezüglich genetischer und morphologischer Sicht in miniaturisierter Form abbildet», bilanziert Altermatt.
Allerdings mahnt der Biologe auch, dass die neu entdeckten Flohkrebse potentiell gefährdet sind. Vier der fünf neu entdeckten Arten kommen weltweit nur in der Schweiz vor, so dass die Schweiz eine grosse Verantwortung für den Erhalt dieser einzigartigen Biodiversität hat. Der Klimawandel wie auch Verschmutzung des Grundwassers, beispielsweise durch Pestizide, könnten diesen empfindlichen Arten zusetzen.