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Nachruf auf Thomas Hengartner

Strategischer Denker am Schnittpunkt von Kultur und Technik

Die Digitalisierung der Gesellschaft war Thomas Hengartners grosses Thema als Leiter des Collegium Helveticum. Am Auffahrtstag ist der UZH-Professor für Populäre Kulturen 57-jährig nach langer und schwerer Krankheit gestorben.
Bernhard Tschofen
Prägte die kulturwissenschaftliche Technikforschung: UZH-Professor Thomas Hengartner, hier auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2013. (Bild: David Werner)

 

Thomas Hengartner hat in der wissenschaftlichen Analyse und Interpretation des Verhältnisses von Technik, Kultur und Alltag bedeutende Akzente gesetzt. Die Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien des 19. und 20. Jahrhunderts beschäftigten ihn ebenso wie die fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft. Er suchte und pflegte den Dialog zwischen Natur und Technik sowie Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Neben der Stadtforschung und der Untersuchung neuer Kommunikationsgewohnheiten gehörte die kulturwissenschaftliche Technikforschung zu seinen Schwerpunkten. Sie ist heute untrennbar mit seinem Namen verbunden.

Weiter Horizont

Thomas Hengartner absolvierte bereits in jungen Jahren eine fabelhafte akademische Karriere. In Bern noch in der klassischen Volkskunde und Dialektologie ausgebildet und zugleich im überfachlichen Horizont der Geschichts- und Literaturwissenschaften zuhause, legte er früh den Grundstock zu einer breit angelegten Forschungstätigkeit. In ihr verband er so unterschiedliche Forschungsfelder wie die Arbeit über Religion und Alltagswelt (in seiner Dissertation, 1990), die kulturwissenschaftliche Stadtforschung (in der Habilitation, 1996) oder die Untersuchungen zu Genussmitteln und Konsumkulturen.

Mit dem Ruf an die Universität Hamburg 1996 begann seine schwerpunktmässige Beschäftigung mit kulturwissenschaftlicher Technikforschung. 2002 mit dem renommierten Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet, gelang es ihm, mit der Gründung des Forschungskollegs «Kulturwissenschaftliche Technikforschung» dieses Arbeitsgebiet weiter auszubauen und zu profilieren – als theoretisch fundierte, methodisch innovative und vor allem nahe an den Widersprüchen alltäglicher Praxis operierende ethnographische Kulturanalyse der Wechselbeziehungen von Mensch, Technik und Gesellschaft.

2010 wurde Thomas Hengartner als Professor für Volkskunde an die Universität Zürich berufen, wo er die Leitung des Instituts für Populäre Kulturen übernahm. Er entwickelte sich zu einem gewichtigen Strategen des Faches und seines Umfelds, ob als Prodekan für Forschung der Philosophischen Fakultät (seit 2012), beim Schweizerischen Nationalfonds oder in der League of European Research Universities. Er verstand es dabei wie kaum jemand, die Spezifik kulturanthropologischen Denkens und Arbeitens in überfachlichen Gremien und Forschungsverbünden zu vertreten. Diese Vision leitete ihn auch bei der von ihm 2014 maßgeblich mitverantworteten Fusion der Populären Kulturen mit der Ethnologie und dem Völkerkundemuseum der Universität Zürich zum ISEK – Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft.

Land und Leute

In den Medien einmal treffend als «Denkfabrikant» (Zürcher Tages-Anzeiger) bezeichnet, gestaltete er auch das Collegium Helveticum, zu dessen Leiter er 2016 berufen wurde, als ein «Laboratorium für Transdisziplinarität». In diesem von den Zürcher Hochschulen ETH, UZH und ZHdK gemeinsam getragenen Institut für Höhere Studien beschränkte er sich nicht einfach auf den Dialog zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Wie in seinem privaten Engagement – nicht zuletzt auf der Stöckener «Rübenburg» vorgelebt –, machte er sich auch hier die offene Begegnung zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und den Künsten zu einem besonderen Anliegen.

Als Alltagsforscher, der er war, besass Thomas Hengartner ein beeindruckendes Gefühl für Menschen, Räume und soziale Situationen. Es verband sich bei ihm mit einem stupenden Wissen über die historischen und gegenwärtigen Prägungen unterschiedlichster Lebenswelten, das man ihm beim Arbeiten, aber fast noch mehr im Privaten angemerkt hat. Nicht zuletzt hat er daher gerade an seinem Wohnort Stöcken in der Lüneburger Heide zuletzt viel von «Land und Leuten» geredet und noch über ein «Glokalmuseum» nachgedacht.

Genuss und Reflexion

Ob an seinen akademischen und privaten Stationen oder auch an zufällig besuchten Plätzen – stets fand sich Thomas Hengartner sofort in der sozialen Logik der Orte und Städte zurecht. Und obwohl akademischer Pendler mit ländlichem Familiensitz und Zürcher «pied-à-terre» – wie er sagte – standen bei ihm persönliche und wissenschaftliche Interessen stets in reflektierter Nähe: Sein Faible für Genusskulturen hat er auch gelebt und verstand es als eine Form sinnlichen Weltverstehens, dem auch wissenschaftliche Legitimität gebührt. Die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde, deren Vorsitzender er 2003 bis 2010 war, lud er nicht zuletzt deshalb 2015 zu einem Kongress «Kulturen der Sinne» nach Zürich.

Thomas Hengartners wissenschaftliche Laufbahn war bestimmt von einem nimmermüden Engagement für das Fach und den wissenschaftlichen Nachwuchs. Mit all den Dingen, die er angestossen hat, die er sich ausgedacht und zu denen er vor allem auch Jüngere ermuntert hat, ist ihm ein wesentlicher Beitrag dazu gelungen, dass die «Volkskunde» heute im Konzert der Fächer eine nicht mehr zu überhörende Stimme ist.