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Es ist eine Endlosschleife der Verzweiflung: Wer eine Depression hat, ist gefangen im negativen Denken. Das zeigt sich schon bei alltäglichen Dingen. Zum Beispiel nimmt sich jemand vor, am Samstag die Wohnung zu putzen, wird aber nicht ganz fertig damit. «Ich habe wieder einmal voll versagt», denkt sich eine depressive Person. Darunter leidet das Selbstbild, noch mehr negative Gefühle entstehen. Die innere Stimme flüstert fortwährend: «Nichts kann ich, niemand mag mich».
Die Gedanken beeinflussen das Verhalten, die Emotionen, das Leben eines Menschen fundamental. Wie aber entscheidet sich das Gehirn, worüber es nachdenken soll? «Menschen mit einer Depression denken anders als Gesunde», sagt der Psychiater Quentin Huys von der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (KPPP und PUK) und der Translational Neuromodeling Unit (TNU) von Universität und ETH Zürich. Entweder ist etwas perfekt. Oder es ist, umgekehrt, rein gar nichts wert. Grautöne haben in diesem Schwarz-weiss-Denken keinen Platz, wie die kognitive Depressionsforschung aufgezeigt hat.
Natürlich müssen sich auch Gesunde manchmal eingestehen, dass sie ein Ziel verfehlt haben. Aber sie grübeln deswegen nicht endlos. Vielmehr erkennen sie, dass drei Viertel geschafft sind und dass sie den Rest auch noch schaffen werden. Ohnehin hat das keine grossen Konsequenzen, eigentlich ist also alles ganz okay.
Medikamente können depressiven Patienten Linderung verschaffen. Antidepressiva beeinflussen meist Neuroregulatoren wie Serotonin oder Noradrenalin (siehe Kasten), hellen so die Stimmung auf und bremsen das belastende Gedankenkarussell. Vor allem bei schweren Depressionen werden Antidepressiva oft mit Erfolg eingesetzt. Doch bei leichten und mittelschweren Fällen ist eine positive Wirkung nicht belegt. Und: Die Symptome bessern sich, solange die Medikamente eingenommen werden. Doch wenig deutet darauf hin, dass sie auch die Ursachen längerfristig beheben, etwa indem sie das Schwarz-Weiss-Denken im Kopf Depressiver um Grautöne ergänzen.
Ein weiteres Problem ist, dass die Medikamente Nebenwirkungen haben. Sie verursachen zum Teil Blutdruckprobleme, Gewichtszunahme, beim Mann Potenzprobleme. Im Alter können sie zu Elektrolysestörungen führen, also zu einer Entgleisung des Wasser- und Salzhaushalts im Körper. Und es kann trotz Antidepressiva zu Rückfällen kommen. Schlimmer noch: Es könnte sogar sein, dass das Medikament bei langer Verabreichung die Rückfallrate erhöht.
Trotz der bekannten Probleme und der bei leichten und mittelschweren Fällen zweifelhaften Wirkung werden Antidepressiva heute länger verschrieben als früher – sicherheitshalber. Die Krankheit ist nämlich sehr häufig chronisch. Von hundert Menschen erleiden im Laufe ihres Lebens 15 bis 20 eine Depression. Bei jenen Menschen, die schon einmal erkrankt sind, liegt die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls bei 50 Prozent.
Wie stark die Langzeitverschreibungen in den letzten Jahren angestiegen sind, zeigt sich in den USA am deutlichsten. Dort nehmen mittlerweile 15,5 Millionen Menschen – mehr als 4,5 Prozent der Bevölkerung – seit mindestens fünf Jahren Antidepressiva, wie eine Auswertung offizieller Gesundheitsdaten durch die «New York Times» Anfang April dieses Jahres ergab. Das sind doppelt so viele wie im Jahr 2000. Auch in Westeuropa steigt die Einnahmedauer an. Detaillierte Zahlen für die Schweiz liegen allerdings nicht vor. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) rechnet mit knapp 400 000 Menschen, die hierzulande an Depressionen leiden – rund fünf Prozent der Bevölkerung.
Langzeitverschreibungen mögen gut gemeint sein. Depressionen verursachen grosses Leid. Sie sind die wichtigste Ursache für Arbeitsunfähigkeit, Invalidität und wegen der hohen Suizidgefahr lebensbedrohlich. Gemäss WHO gehören sie zu den Krankheiten mit der grössten Gesamtbelastung für den Menschen.
Doch die Langzeitverabreichung von Medikamenten ist noch nicht gut untersucht. Ungeklärt ist etwa die Frage, ob Antidepressiva die Rückfallgefahr erhöhen oder senken. «Ich würde niemandem davon abraten, bei einer Depression ein solches Medikament zu nehmen – aber wir können nicht ausschliessen, dass Antidepressiva die Rückfallgefahr erhöhen, wenn man sie zu lange einnimmt», sagt Quentin Huys. Empfohlen wird, die Medikamente abzusetzen, wenn die Depression nach sechs bis neun Monaten abgeklungen ist. Ausser bei wiederkehrenden Erkrankungen. Da wird eher zu langfristiger Einnahme geraten.
Die Frage, die die Depressionsforschung umtreibt, lautet deshalb, wie lange Antidepressiva verabreicht werden sollen. Und: Bei welchen Patienten können sie abgesetzt werden und bei welchen nicht? «Langfristig gesehen ist das Absetzen von Antidepressiva ähnlich wichtig wie das Ansetzen. Trotzdem wissen wir darüber beinahe gar nichts», sagt Quentin Huys.
Hilfreich wäre etwa, wenn sich jene Patienten identifizieren liessen, die das Medikament absetzen können, weil sie nicht mit einem Rückfall rechnen müssen. Huys schätzt, dass es sich dabei etwa um ein Drittel der Betroffenen handelt. Bei einem weiteren Drittel sei zu erwarten, dass die langfristige Einnahme von Antidepressiva einen Rückfall gar nicht verhindern kann. Beiden Gruppen bringt die langfristige Einnahme also nichts.
Doch worin unterscheiden sie sich von jenem Drittel der Patienten, bei dem das Medikament eine neue Episode der Depression unterbindet? Genau das will Huys mit einer explorativen Studie aufzeigen, die vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wird. Bis Mitte April sind in Zürich und an der Charité in Berlin die Daten von insgesamt 147 Personen gesammelt worden. Erfasst wurden Blut- und Hormonwerte, das Verhalten und die Krankengeschichte vor und nach dem Absetzen der Antidepressiva.
Vor allem aber messen Huys und sein Team die Gehirnaktivität. Dazu lösen die Probanden im Testlabor während einer Stunde verschiedene Aufgaben. Sie schauen sich zum Beispiel auf einem Laptop Gesichter mit einem bestimmten emotionalen Ausdruck an und entscheiden, ob es sich um Wut, Ekel, Angst, Trauer oder Freude handelt. Dabei tragen sie auf ihrem Kopf eine Haube mit 65 Elektroden, die mittels Elektroenzephalographie (EEG) die Aktivitäten der Nervenzellen in der Hirnrinde registrieren. Zudem werden die Gehirnaktivitäten auch mittels funktionaler Magnetresonanztomografie detailliert aufgezeichnet.
Im Oktober ist klar, wer einen Rückfall erlitten hat. Dann geht es an die Aufschlüsselung der Daten. Wie unterscheiden sich die Gehirnaktivitäten der Depressiven von den Gesunden? Der Rückfallgefährdeten von den Geheilten? Sind Aussagen zum Langzeitverlauf möglich? Lässt sich vielleicht gar unterscheiden, bei wem das Antidepressivum einen Rückfall verhindern kann?
Bei der Auswertung setzt Huys auf modernste Methoden der berechnenden Psychiatrie. Diese «computational psychiatry» benutzt sogenannte generative Modelle von Prozessen im Gehirn. Diese Modelle erhalten denselben Input wie die Probanden am Laptop im Testlabor. Die Forscher drehen dann so lange an den «Stellschrauben» des Modells, bis es sich gleich verhält wie der Mensch. Auf diese Weise lassen sich die massgebenden Faktoren aufspüren, die den Verlauf einer Depression beeinflussen.
Ziel ist es, ein Instrument zu entwickeln, das dem behandelnden Psychiater Auskunft darüber gibt, ob sein Patient das Antidepressivum gefahrlos absetzen kann. Wie dieses aussehen wird, lässt sich noch nicht sagen: Im Optimalfall ist dafür ein Bluttest oder ein EEG nötig, unter Umständen aber auch die kostspieligere Magnetresonanztomografie. Doch zuerst muss die Studie robuste Resultate liefern, in einem nächsten Schritt würde die entwickelte Methode in einer randomisierten klinischen Studie getestet. Der Weg ist also noch weit, wie Huys betont.