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Im Maschinenraum der Welt

Kann Armut bekämpft werden, indem man das Verhalten der Betroffenen gezielt beeinflusst? Oder wird sie damit nur perpetuiert? Christian Berndt und Guilherme Lichand diskutieren über die Wirkung solcher sozialer Interventionen.
Thomas Gull
«Das grundsätzliche Problem von Armut wird nicht angegangen», Christian Berndt. Bild: iStock (Catlane)

 

Im letzten UZH Magazin wurde der Artikel per «SMS aus der Armutsfalle» publiziert. Er beschreibt die Arbeit des UZH Ökonomen Guilherme Lichand, der in Brasilien untersucht hat, wie sich das so genannte Nudging – das «Anstupsen» – von Eltern auf den Schulerfolg der Kinder auswirkt. Dabei werden die Eltern zweimal in der Woche per SMS dran erinnert, dass der Schulbesuch wichtig ist. Der Erfolg dieser Aufmerksamkeitsteuerung via Textnachricht ist phänomenal: die Repetitionsquote konnte um ein Drittel gesenkt werden und die Kinder waren Ende Jahr im Schulstoff drei Monate weiter. Der Wirtschaftsgeograph Christian Berndt bestreitet nicht, dass solche Interventionen positive Wirkungen haben können, er kritisiert sie jedoch als «kurzsichtig». Berndt findet diese Form der Problemlösung, die auf verhaltensökonomischer Forschung basiert, grundsätzlich problematisch.

Herr Berndt: Sie kritisieren die Art von verhaltens­ökonomischer Forschung gekoppelt mit ganz konkreten Interventionen, wie sie Guilherme Lichand in Brasilien und andernorts betreibt, als «kurzsichtig». Weshalb?

Christian Berndt: Das Schlagwort «Armut macht dumm», das im Artikel im UZH Magazin verwendet wurde, ist provokativ. Als wir das bei uns am Geographischen Institut lasen, dachten wir: das kann man so nicht stehen lassen. Aus meiner Sicht ist der Zugang zum Thema Armut und Schule, den Herr Lichand gewählt hat, nicht nahe genug bei den Menschen und ihren Bedürfnissen. Damit meine ich, dass Menschen, die Ziel der Intervention sind, behandelt werden wie Probandinnen und Probanden in einer klinischen Studie. Was mir fehlt ist der Kontext – man weiss wenig über die Menschen und ihre Bedürfnisse und das scheint auch nicht zu interessieren. Auf der anderen Seite ist die Studie aber auch zu eng, indem sie sich auf diese sehr direkten Interventionen via Textnachrichten bei den Eltern beschränkt.

Herr Lichand: Wie reagieren Sie auf diese Kritik?

Guilherme Lichand: Ich bin mit dem Kritikpunkt einverstanden, dass wir mit unserer Intervention nur einen kleinen Teil des Problems angehen, indem wir versuchen, die Aufmerksamkeit der Eltern auf den Schulbesuch ihrer Kinder zu lenken. Wir versuchen, in einem überschaubaren Bereich etwas zu verändern und damit den Menschen zu helfen. Es ist mir bewusst, dass das, was wir tun, alleine nicht ausreicht, um das Armutsproblem zu lösen. Aber wir sehen auch, dass kleine Dinge, wie die SMS-Nachrichten, die wir in Brasilien einsetzen, die Repetitionsrate der Kinder um einen Drittel senkt, was viel ist. Für mich bedeutet das: wir können nicht alle Probleme lösen, aber trotzdem in einem kleinen Bereich Fortschritte machen. Deshalb sind solche Interventionen aus meiner Sicht gut und wertvoll.

Berndt: Ein anderes Problem, das wir mit dieser Art von Forschung haben, ist, dass die Kategorien «Reich» und «Arm» eindimensional sind. Armut ist ein Problem mit vielen Facetten, genauso wie das Verhalten von Menschen mehrere Dimensionen hat. Wir würden uns davor hüten zu sagen: die Reichen denken so, die Armen so. Das ist zu reduktionistisch. Auch wenn ich damit einverstanden bin, dass es hilft, einen Anstoss zu geben – ich tue das selber jeden Tag etwa mit Post-its – bin ich der Meinung, dass man mehr über die Menschen wissen sollte, bevor man auf diese Weise eingreift. Aus meiner Sicht ist diese Methode zu simplifizierend.

Aber offenbar funktioniert sie.

Berndt: Ich bestreite nicht, dass es funktionieren kann. Doch die von der Verhaltensökonomie verwendeten Methoden wie Nudging oder Priming (Steuerung der Wahrnehmung und des Denkens durch das gezielte Setzen von Anreizen) sind sehr erfolgreich und in einschlägigen wissenschaftlichen Disziplinen zum unhinterfragten Standard geworden. Dabei wirken sie wie ein Breitbandantibiotikum, das heisst, sie werden undifferenziert auf alle möglichen Probleme angewendet. Das kann funktionieren, aber es kann auch Schaden anrichten.

In welcher Weise?

Berndt: Es ist, als würde man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Mit solchen Interventionen wird versucht, die von diesem System verursachten Probleme mit Hilfe des Systems zu lösen. Doch wenn wir Menschen dazu bringen, in einem defizitären System besser zu funktionieren, stärken wir das System anstatt es zu verändern. Das grundsätzliche Problem der Armut wird nicht angegangen. Die Armut in Brasilien und anderorts ist eine Folge tief sitzender gesellschaftlicher Verwerfungen, die viel mit dem globalen Kapitalismus zu tun haben.

Herr Lichand, wäre es nicht besser, das dysfunktionale System, das Armut erzeugt und perpetuiert zu verändern, statt die Menschen in Pawlowscher Weise darauf zu trimmen, in ihm besser zu funktionieren?

Lichand: Das ist ein provokativer Gedanke. Wir sind uns bewusst, dass die Anstösse auch Schaden anrichten können, in unserem Fall etwa, wenn die Kinder geschlagen werden, weil sie die Schule geschwänzt haben und die Eltern das erfahren. Deshalb haben wir uns bemüht, die Botschaften an die Eltern möglichst neutral und sachlich zu halten.

Berndt: Hat Sie interessiert, weshalb die Kinder die Schule schwänzten?

Lichand: Wir haben nicht versucht, genauer zu verstehen, weshalb die Kinder nicht zur Schule kommen. Unsere Ausgangslage war die Feststellung, dass ein Teil der Kinder häufig nicht zur Schule kam, und wir überlegten uns, was wir dagegen tun könnten. Unsere Annahme war, dass wir etwas dagegen unternehmen können, indem wir die Aufmerksamkeit der Eltern auf dieses Problem lenken. Wir versuchen jetzt dasselbe in der Elfenbeinküste, wo alle annehmen, dass sich damit nichts erreichen lässt, weil auch die Lehrer oft nicht in der Schule sind und es deshalb wenig Sinn macht, die Eltern zu animieren, die Kinder in die Schule zu schicken.

Berndt: Der Entwicklungsökonomin Esther Duflo hat in ihrer Studie «Getting Teachers to Come to School» die Abwesenheit von Lehrerinnen und Lehrern in Indien untersucht. Am Ende wurde folgender behavioristische Lösungsvorschlag gemacht: Die Lehrpersonen mussten jeweils ein Foto mit sich und den Kindern vorlegen, um zu beweisen, dass sie in der Schule waren. Die so bewiesene Anwesenheit wirkte sich dann auf den Lohn aus. Meines Wissens wurde auch hier nicht danach gefragt, weshalb die Lehrpersonen nicht in die Schule kommen. Ist es, weil sie mehrere Jobs haben? Weil sie zu wenig verdienen? Weil sie «faul» sind? Weil der Arbeitsweg gefährlich ist? Ich weiss es nicht. Ich vermute, dass die Dinge relativ kompliziert sind. Deshalb wäre ich vorsichtig, das so anzupacken. Indien, die Elfenbeinküste, Brasilien – in ganz verschiedenen Kontexten immer gleich vorzugehen, ist aus unserer Perspektive problematisch.

Herr Lichand, Christan Berndt kritisiert, die Verhaltensökonomie gehe mit Interventionen wie jenen von Ihnen oder Frau Duflo das Problem nicht als Ganzes an.

Lichand: Wir konzentrieren uns auf eine eng begrenzte Fragestellung, um ganz grundsätzliche Fragen zu klären wie etwa den Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Armut. Wie wir zeigen können, hat Armut psychologische Konsequenzen, die wichtige Entscheidungen beeinflussen wie etwa die Investitionen in das Humankapital der Kinder. Wenn die Eltern hier falsch entscheiden, verharren sie in der Armutsfalle. Einfache Interventionen, die das verändern, können Familien helfen, sich aus der Armut zu befreien. Unsere Hoffnung ist: wenn wir viele dieser kleinen Probleme lösen, trägt das dazu bei, die grosse Herausforderung der Armut besser in den Griff zu bekommen.

Berndt: Was wir noch nicht diskutiert haben, ist, dass das Armutsproblem aus einer tradierten europäisch-amerikanisch geprägten Perspektive angegangen wird. Wir wissen, was Fortschritt bedeutet und was für die Menschen gut ist und was nicht. Das ist immer noch eine grundsätzlich koloniale Haltung und aus meiner Sicht auch gefährlich.

Weshalb?

Berndt: Es basiert auf der Annahme, die einen (die Wohlhabenden) verhielten sich vernünftiger (rationaler) als die anderen (die Armen) und den Unvernünftigen müsse geholfen werden, indem sie mit Nudging und Priming manipuliert werden. Wenn wir wüssten, dass wir genauso angestossen und geprimt werden, wie die Menschen in diesen Experimenten, wie würden wir darauf reagieren?

Wir würden wohl wütend.

Berndt: Wir würden wohl wütend. Ich glaube, alle wollen das Beste. Aber ich mache mir Sorgen: Man zwingt Menschen etwas auf, ohne sie zu fragen, ob sie das wirklich wollen. Wenn beispielsweise Kleinbäuerinnen und -bauern dazu gebracht werden, einem bestimmten als fortschrittlich erachteten Produktionsmodell zu folgen, werden sie abhängig von der Agrarindustrie, den Supermartketten und unseren Konsumlaunen und müssen die damit verbundenen Risiken letztlich alleine tragen.

Lichand: Wir gehen an diese Orte und wir haben natürlich unsere Vorstellungen und Vorurteile. Aber wir arbeiten mit Organisationen vor Ort zusammen, die die Verhältnisse kennen und den Menschen helfen wollen. Natürlich haben sie auch Vorurteile, das gilt zum Teil auch für die Geldgeber. Das heisst: es ist ein imperialistischer Blick, wenn man so will.

Herr Berndt, Sie sagen, den Menschen werde etwas aufgezwungen, dass sie vielleicht so nicht wollten, wenn sie wählen könnten.
Was würden Sie anders machen?

Berndt: Guilherme Lichands Arbeit ist angewandter als unsere. Aus meiner Sicht sollte man die Probleme zuerst gründlich analysieren, bevor man interveniert. Ich beschäftige mich zum Beispiel seit vier Jahren damit, was die Ausbreitung des Soja-Anbaus in Argentinien für die ländliche Bevölkerung bedeutet und welchen Schaden er anrichtet. Ich versuche dann, Denkanstösse zu geben, was man ändern sollte.

Reicht das? Wie transferieren Sie das in die Politik?

Berndt: Nicht auf die direkte Weise wie Guilherme Lichand, aber indem wir eine öffentliche Diskussion über die Probleme anstossen, haben wir auch eine gewisse Wirkung.

Herr Lichand: Reflektieren Sie zu wenig, was Sie tun?

Lichand: Das ist eine Frage des Selbstverständnisses: Esther Duflo bezeichnet die Ökonominnen und Ökonomen als Klempner. Diese müssen auch viel wissen, über das System, das sie in Ordnung bringen sollen. Das gilt auch für uns: Wir versuchen zwar direkt zu intervenieren, beschäftigen uns zuvor aber intensiv mit der Situation vor Ort. In der Elfenbeinküste brauchten wir eineinhalb Jahre um die Einführung des Nudging-Systems vorzubereiten, obwohl es sich grundsätzlich um die gleiche Idee handelt wie in Brasilien. Aber natürlich: Wir schauen eher durchs Mikroskop als durchs Teleskop auf die Probleme.

Berndt: Sie sind im Maschinenraum der Welt und versuchen, dieses und jenes zu flicken. Das mag funktionieren. Doch mein Problem ist, dass unser ökonomisches System immanente Schwächen hat, wenn man die sozialen Folgen und die Folgen für die Umwelt betrachtet. Diese fundamentalen Probleme kann man nicht mit punktuellen Interventionen lösen. Der Klimawandel etwa ist eine Folge davon, wie wir leben, arbeiten, konsumieren. Das verändert man nicht mit ein paar Drehungen an einer Schraube.

Sollte man nicht beides tun: versuchen zu ändern, was fundamental falsch läuft, und gleichzeitig mit gezielten Interventionen Verbesserungen anstreben in bestimmten Bereichen wie der Bildung?

Lichand: Wir sehen, dass verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und verschiedene Disziplinen am gleichen Problem arbeiten. Es ist wichtig, dass sie aus verschiedenen Perspektiven angegangen werden. Wir denken, dass das alles zusammen dazu beiträgt, die Probleme zu lösen.

Berndt: Wenn wir die Probleme lösen wollen, brauchen wir Veränderungen, da sind wir uns einig. Guilherme Lichand setzt eher auf Reformen in kleinen Schritten, ich finde, wir sollten mutiger und anspruchsvoller sein und uns nicht damit zufriedengeben, dass gewisse Dinge einfach nur etwas besser funktionieren.

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