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Frau Häusermann, vor kurzem wurde eine Reform der Altersvorsorge vom Stimmvolk verworfen. Weshalb ist die Vorlage gescheitert?
Silja Häusermann: Eine Reform, die Rentenleistungen verschlechtert, hat es in der Politik unglaublich schwer, weil sich fast alle negativ betroffen sehen. Das Reformpaket hat an der Abstimmung vom 24. September immerhin 47 Prozent Ja-Stimmen erhalten. Ich fürchte, wir werden in Zukunft noch sehen, wie schwierig es ist, nur schon diese Zustimmung zu erhalten, etwa für die Senkung des Umwandlungssatzes oder die Erhöhung des Rentenalters.
Ein Grund für das Scheitern war auch eine Teil-Allianz zwischen links und rechts – mit ganz unterschiedlichen Interesse. Wer hat denn schlussendlich gewonnen?
Häusermann: Niemand, es würde sich wohl auch niemand als Sieger dieser Abstimmung bezeichnen, denn keine Seite ist ihren Zielen nähergekommen. Es gibt eigentlich nur Verlierer. Das Scheitern illustriert auch die aktuell enorme Polarisierung in der Schweizer Politik. Der Parteienwettbewerb hat sich in den letzten zwanzig Jahren sehr stark verändert – weg von der Konsensdemokratie. Bis Anfang 2000er-Jahre wurden sozialpolitische Vorhaben zwar lange im Parlament diskutiert, sie wurden schliesslich aber getragen von den meisten Parteien und daher im Volk meist befürwortet – falls es denn überhaupt zum Referendum kam. Diese notwendigen, breiten Koalitionen bringt das System heute fast gar nicht mehr zustande.
Sozialpolitik wird durch die Polarisierung noch schwieriger?
Häusermann: Genau. Eine Reform, die die Renten sichern will, braucht eine breite Unterstützung der Parteien, etwa vom rechten Flügel der Sozialdemokratie bis zum gesellschaftsliberalen Flügel des Freisinns. Im Moment gibt es wenige Anzeichen dafür, dass solche Koalitionen zustande kommen. Nach der gescheiterten Unternehmenssteuerreform und nach der gescheiterten Rentenreform wächst in der Politik allerdings das Bewusstsein, dass die Polarisierung die Reformfähigkeit des Landes beeinträchtigt. Sie macht Rentenreformen, die sowieso schon schwierig sind, noch viel schwieriger.
Sagt uns das etwas bezüglich der Haltung von Bevölkerung und Politik gegenüber dem Sozialstaat?
Häusermann: Umfragewerte zeigen, dass die Zustimmung zu einem grosszügigen Sozialstaat in der Schweiz sehr hoch ist, wie in allen anderen Ländern auch. Das heisst, es gibt einen breiten Konsens. Aber auf der aktuellen Reformagenda steht eben nicht der Ausbau, sondern die finanzielle Sicherung. Das bedeutet entweder Leistungsrückbau, Steuererhöhungen oder eine Verlagerung von Prioritäten innerhalb des Sozialstaats. Diese Art von Reformen ist sehr schwer durchzubringen.
Welches sind die die aktuellen Herausforderungen für den Sozialstaat in der Schweiz, aber auch in Europa?
Häusermann: Der Sozialstaat, der nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, zielt vor allem in Europa darauf ab, Einkommen zu versichern. Wir bezahlen beispielsweise Lohnbeiträge ein. Im Risikofall entschädigt der Sozialstaat den Einkommensverlust durch finanzielle Transfers. Seit knapp zwanzig Jahren gibt es nun einen starken politischen und intellektuellen Impuls, nicht mehr ausschliesslich den Einkommensersatz ins Zentrum von Sozialpolitik zu stellen, sondern auch aktivierende politische Massnahmen, Investitionen sozusagen. Sozialpolitik soll die Erwerbstätigkeit ermöglichen, fördern, und verbessern. Das heisst, Sozialstaaten müssten künftig mehr Ressourcen darauf konzentrieren, Humankapital zu fördern – etwa durch Bildung, ein gutes Angebot von Kinderkrippen und gute Arbeitsbedingungen. Sie müssten aktive Sozialleistungen schaffen anstatt passive. Dieser Umbau ist meines Erachtens die zentrale Herausforderung des heutigen Sozialstaats. Die europäischen Länder sind da unterschiedlich weit.
Wie weit ist die Schweiz? Leben wir in einem Versicherungs- oder in einem Investitionsstaat?
Häusermann: Die Schweiz ist noch vorwiegend ein Versicherungsstaat. Staatliche Investitionen sollen das Prinzip der Versicherung auch nicht ganz ersetzen. Aber im Bereich Arbeitsmarkt beispielsweise ist die Schweiz recht weit – etwa in der Arbeitslosenversicherung.
Wie zeigt sich das?
Häusermann: In den letzten zwanzig Jahren sind zum Beispiel die Regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) entstanden, aktivierende Arbeitsmarkt massnahmen also.
Bringen diese Regionalen Arbeitsvermittlungszentren denn etwas?
Häusermann: Die RAV sind wohl die am besten evaluierten sozialen Institutionen in der Schweiz, sie werden entsprechend laufend ajustiert. Die Evaluationen zeigen, dass sie durchaus wirksam sind. Wir wissen auch, dass Staaten, die stärker auf soziale Investitionen ausgerichtet sind, viel höhere Erwerbsquoten haben als Staaten, die ihre Bürgerinnen und Bürger vor allem finanziell absichern.
Welche Länder sind besonders erfolgreich?
Häusermann: Vorreiter der sozialen Investitionspolitik sind die skandinavischen Länder und die Niederlande. Das sind Sozialstaaten, die schon viel früher auf die Förderung der Erwerbstätigkeit gesetzt haben. Die kontinentaleuropäischen Staaten bewegen sich seit zwanzig Jahren in diese Richtung – unterschiedlich schnell, weil eben viele Ausgaben gebunden sind und ein Umbau von Versicherung auf Investition politisch schwierig ist, wenn das Gesamtbudget begrenzt ist. Die südeuropäischen Sozialstaaten haben grösste Mühe, auch nur kleine Schritte in diese Richtung zu machen.
Beim Arbeitsmarkt hat sich die Schweiz aus Ihrer Sicht positiv in Richtung Investitionspolitik entwickelt, wo gibt es Nachholbedarf?
Häusermann: Sicher in der Familienpolitik. Hier weicht die Schweiz am meisten von der Entwicklung anderer europäischer Sozialstaaten ab. Lokal, in einigen Städten, gibt es mittlerweile zwar viele Betreuungseinrichtungen, aber insgesamt sind die Dienstleistungen in der Kinderbetreuung auch dort viel schwächer ausgeprägt als in den umliegenden Ländern und auch sehr viel teurer. Das äussert sich entsprechend in einer hohen Teilzeiterwerbstätigkeit der Frauen mit eher tiefen Pensen, oder auch darin, dass vor allem höhere Einkommensschichten die familienergänzende Betreuung nutzen.
Politische Auseinandersetzungen in der Familienpolitik sind sehr stark ideologisiert. Wie erklären Sie sich das?
Häusermann: Das ist ein spannender Aspekt. Sozialpolitik dreht sich in der Regel um materielle Verteilkonflikte. Gewisse Bereiche des Sozialstaats aber – die Familienpolitik gehört dazu – haben nicht nur eine verteilungspolitische, sondern auch eine starke Wertedimension. Da geht es etwa um die Rollenbilder von Mann und Frau, um Investitionen in Bildung und gesellschaftliche Veränderungen insgesamt. Die Forschung hat gezeigt, dass die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger zur Familienpolitik viel stärker gesellschaftspolitisch- kulturell konnotiert sind als zum Beispiel jene zur Arbeitslosenversicherung oder zu Renten. Das heisst, sie verlaufen ähnlich wie die Einstellungen zu Frauen- und Minderheitsrechten, zu Migrationsfragen oder zur internationalen Öffnung beziehungsweise Abgrenzung der Schweiz. Zu Themen also, die gar nicht so eng mit dem Sozialstaat zusammenhängen. Da wird Sozialpolitik also quasi gesellschaftspolitisch polarisiert. Deshalb sind familienpolitische Fragen in der Schweiz so kontrovers.
Sie sind Teil des Kulturkampfes zwischen Konservativen und Progressiven?
Häusermann: Genau. In der Familienpolitik besteht ein Konflikt zwischen verschiedenen Vorstellungen darüber, wie die Gesellschaft funktionieren soll. Ob sie sich weiter öffnen, modernisieren und verändern soll, oder ob sie stärker bewahren soll.
Kontrovers diskutiert wird mittlerweile auch die Bildungspolitik, weshalb?
Häusermann: Bildung ist ein politisches Thema, das eigentlich keine Gegner hat. Sowohl die Bevölkerung als auch alle Parteien befürworten Investitionen in Bildung. Über bildungspolitische Grundfragen besteht weitgehend Konsens. Es gibt aber zwei Bereiche, für die das nicht gilt: die frühkindliche und die tertiäre Bildung, diese sind kontrovers in Meinungsumfragen und politischen Debatten. Diese beiden Bildungsbereiche stehen emblematisch für den gesellschaftlichen Wandel: die enorme Expansion der tertiären Bildung im Zusammenhang mit der Deindustrialisierung und die Transformation zu einer Dienstleistungsgesellschaft, sowie den Aufstieg der Frauen in Bildung und Arbeitsmarkt. Diese Entwicklungen sind Teil einer gesellschaftlichen Umwälzung, die momentan einen heftigen Backlash erfährt.
Der Backlash der weniger gut ausgebildeten Männer gegen die gebildeten Frauen?
Häusermann: So schematisch ist es natürlich nicht. Aber die beiden Profile, die weniger gebildeten Männer und die gut ausgebildeten Frauen, stehen symbolisch für Gewinnerinnen und Verlierer des strukturellen Wandels der vergangenen dreissig Jahre. Dieser Strukturwandel hat eine massive Reduktion von Arbeitsplätzen in der Industrie gebracht und gleichzeitig eine Expansion des Dienstleistungsbereichs. Damit verbunden war eine Verschiebung hin zu anspruchsvolleren Jobs. Im Gegensatz zum Dienstleitungsbereich waren die Männer in der Industrie dominant. Hinzu kommt der gesellschaftspolitische Wandel der Rollenmuster und Familienstrukturen. Diese Entwicklungen sind nicht neutral, sie produzieren Gewinner und Verlierer.
Wie verhalten sich die Verlierer?
Häusermann: Sie wehren sich. Wenn man das Profil nationalkonservativer Wähler über die Länder hinweg vergleicht, so ist dieses sehr homogen: Es sind oft Männer, die in der Industrie beschäftigt und in der Regel weniger gut qualifiziert sind. Es sind also Menschen, die sehr verständliche Gründe haben, die wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung als Bedrohung zu erleben. Wichtig ist: Für die Wahl dieser Parteien ist die gefühlte Bedrohung durch den Strukturwandel wichtiger als die tatsächliche Betroffenheit. Es geht hier mehr um Fragen der Anerkennung als um materielle Not.
Kann der Sozialstaat eine Antwort sein auf diese Polarisierung?
Häusermann: Ja, er kann und muss Teil der Antwort darauf sein.
Worin könnte diese bestehen?
Häusermann: Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder wird der Status der Arbeitnehmer gesichert, etwa durch einen starken Kündigungsschutz. Oder man reagiert über soziale Investitionen, indem die Leute unterstützt werden, sich im veränderten Arbeitsmarkt zu behaupten. Dazu braucht es Investitionen in Humankapital, Weiterbildung, und ein durchlässiges Bildungssystem. Langfristig ist das sicherlich die bessere Strategie, sozial wie ökonomisch. Kurzfristig hilft es aber kaum, den Menschen die Angst zu nehmen.
Sie haben die Investitionen in die Bildung angesprochen. Was müsste da konkret getan werden?
Häusermann: Ich denke, die Schweiz hat hier viele Weichen richtig gestellt. In der postindustriellen Gesellschaft ist die Durchlässigkeit zwischen Berufsbildung und tertiärer Bildung zentral. Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren stark in diese Durchlässigkeit investiert, vor allem auch über die Fachhochschulen. Wer eine Berufslehre macht, kann sich vielfältig weiterentwickeln.
Wie wirkt sich das aus?
Häusermann: Sehr direkt, zum Beispiel auf die gesellschaftliche Ungleichheit. In Ländern, die Berufsbildung und ein gutes öffentliches Bildungssystem haben, ist das Wachstum der Ungleichheit, das in den vergangenen dreissig Jahren zu beobachten war, viel geringer als in Staaten, in denen etwa die Hochschulbildung privat finanziert und stark stratifiziert ist.
Wie tragen Sie mit Ihrer Forschung zur Weiterentwicklung des Sozialstaats bei?
Häusermann: Ich untersuche, wie sich die Politik mit dem Strukturwandel verändert. Also wie sich Machtverhältnisse, Interessen und die Strategien der Akteure ändern, wenn die Wirtschaft radikal umgestaltet wird, sich das Geschlechterverhältnis verschiebt oder etwa die Bildung expandiert. Ich arbeite momentan an einem grossen Projekt, das untersucht, unter welchen Bedingungen soziale Investitionspolitik umgesetzt wird oder was diese behindert. Unsere Erkenntnisse sind für die politischen Akteure relevant, weil sie in dieser schwierigen Konstellation einen Weg finden müssen, um Reformen zu realisieren.
Wie sieht es bei der Rentenreform aus? Da scheint im Moment angesichts der starken Polarisierung wenig machbar zu sein.
Häusermann: Ich bin nicht gänzlich pessimistisch. Im Moment wächst die Einsicht, dass es Schritte braucht, die breiter abgestützt sind. Das heisst, man wird nach einem Kompromiss suchen müssen, der einen Abstimmungskampf wie wir ihn erlebt haben, vermeidet.
Wie erreicht man einen tragfähigen Konsens?
Häusermann: Es braucht Kompromisse und Überzeugungsarbeit. Nehmen Sie das Beispiel Rentenalter 67. Umfragen zeigen, dass 70 Prozent der Leute das nicht wollen. Gleichzeitig denken aber auch 70 Prozent, dass das Rentenalter früher oder später erhöht werden muss. Der Job der Parteien ist es nun, die beiden Positionen so zusammenzubringen, dass sie von einer Mehrheit akzeptiert werden. Inhaltlich ist das durchaus möglich. Die entscheidende Frage ist, wie kompromissbereit die Parteien sind.