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Die Zellteilung ist so etwas wie die Meisterprüfung der Körperzelle: Die kleinsten Einheiten des Lebens haben nicht nur ihre spezifischen Aufgaben zu erfüllen, sie sind auch in der Lage, eine Kopie von sich selbst zu erstellen – vielleicht ihre staunenswerteste Fähigkeit. Vor allem die Duplikation der DNA ist ein kleines molekularbiologisches Wunder, ein wenig, als würde ein Kopierer nicht Dokumente, sondern den eigenen, irgendwo tief in ihm eingeschriebenen Strukturplan kopieren. Und zwar Detail für Detail, ohne jede Abweichung und meist fehlerlos.
Doch so exakt der Kopiervorgang im Normalfall abläuft, hin und wieder schleichen sich doch Fehler ein. Und diese Schäden in der Erbsubstanz können zu einem gehörigen Durcheinander in den Körperfunktionen führen oder Krankheiten wie Krebs auslösen. Es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, wie Mutationen normal funktionierende Zellen in Krebszellen verwandeln können, die Forschung dazu ist noch lange nicht abgeschlossen. Gegen 500 Krebsgene sind mittlerweile bekannt, die ein unkontrolliertes Wachstum von Zellen begünstigen.
Damit aus einem unkontrolliert wachsenden Zellhaufen ein Tumor entstehen kann, braucht es jedoch mehrere dieser Genmutationen gleichzeitig – dem Körper bleibt also jeweils ein wenig Zeit, bevor die Dinge wirklich aus dem Ruder laufen. Und es gibt im menschlichen Körper eine ganze Armada von DNA-Reparaturmechanismen, die solche Mutationen rechtzeitig erkennen und ausbessern. So sorgen eigene so genannte Tumorsuppressor-Proteine dafür, dass «ausfällige» Zellen in den Zelltod, die Apoptose, getrieben werden.
Weshalb kann es dennoch zu einem katastrophalen Systemversagen wie Krebs kommen? Warum verselbständigen sich veränderte Zellen auf unheilvolle Weise – und dies an allen Kontrollmechanismen vorbei? Das möchte die Forschungsgruppe rund um den Zellbiologen Matthias Altmeyer besser verstehen. Sie ist auf quantitative Hochdurchsatzmikroskopie spezialisiert – ein Verfahren, mit dem einzelne Zellen dabei beobachtet werden können, wie sie mit DNA-Schäden umgehen.
Nimmt man bei diesen Untersuchungen gleich Tausende von Zellen in den Blick, dann zeigt sich, dass es Unterschiede in der Effizienz der Schadenserkennung und -reparatur gibt, selbst zwischen genetisch identischen Zellen des gleichen Zelltyps. Manche Zellen schaffen es, Reparaturmechanismen gezielt auszuschalten, andere umgehen Kontrollen ganz einfach. Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Reaktionen auf eine auf den ersten Blick doch sehr eindeutige Situation?
Dazu mehr herauszufinden – und so womöglich auch die frühesten Phasen der Krebsentstehung besser zu verstehen –, ist das Ziel der von Altmeyer geleiteten Gruppe. Seit 2016 wird die Forschung des Zellbiologen mit einem ERC Starting Grant des Europäischen Forschungsrats unterstützt. Unlängst hat Altmeyers Team beispielsweise herausgefunden, dass Stress während der Duplikation der DNA an Tochterzellen weitergegeben wird, ohne eigentliche Mutationen. Die Reparaturmechanismen werden so auch bei den nächsten Zellgenerationen dauerhaft in Mitleidenschaft gezogen.
Matthias Altmeyers Forschung zeigt einen ungewohnten Blick auf den Krebs. Denn aus evolutionärer Perspektive betrachtet, sind Krebszellen äusserst trickreich und verschaffen sich einen selektionären Vorteil. So «tarnen» sich manche der Schäden in gewisser Weise, oder anders gesagt: Sie schaffen es, nicht wie ein Schaden auszusehen, sondern wie ein Gewinn für die Zelle. Es sind ebendiese Mutationen, die gefährlich werden können. Dank der quantitativen Analyse der Forscher wissen wir: Im Zellverbund sind Krebszellen die biologischen Streber. Sie verkörpern sozusagen den Typ des erfolgreichen Managers – schneller und effizienter als die anderen. «Aber auch näher am Breakdown», sagt Matthias Altmeyer.
Krebszellen wollen den Erfolg, koste es, was es wolle. Also leben sie riskant, meistens sind bei ihnen jene Gene herunterreguliert, die wichtig für funktionierende Reparaturmechanismen sind. Auf diese Weise sorgen sie dafür, dass es leichter zu Mutationen kommt, dass sich also weitere gefährliche Krebsgene ansammeln können. Ein wenig, als würde man jede staatliche Kontrolle ablehnen, um mehr und rascher produzieren zu können, auch wenn es bei der Produktion immer gefährlicher wird. In der Evolution gewinnt nur, wer etwas wagt, wer besser ist als die anderen. Altmeyer braucht eine Metapher aus dem Strassenverkehr: «Es ist, als würden Krebszellen die Handbremse ausbauen», sagt er. Das ist im Normalfall kein Problem; wenn aber die anderen Bremsen auch ausfallen, kann das auch für die Krebszelle fatal sein.
Lässt sich Altmeyers Sicht auf Krebszellen therapeutisch nutzen? Sicher wird die quantitative Methode in der Diagnose von Bedeutung sein, sagt der Forscher. Bislang nahm man bei zellbiologischen Untersuchungen immer den Mittelwert vieler Zellen in den Blick, ein wenig, als würde sich ein Klassenlehrer nur für den Notendurchschnitt interessieren und nicht für die individuellen Leistungen seiner Schüler. Schafft man es nun mit den richtigen Markern, spezifisch die «Gefährder» im Zellverbund zu sehen und ihren Zustand zu analysieren, dann wird man sehr viel genauer sagen können, ob sich etwas Ungutes anbahnt im Körper.
Altmeyer glaubt aber auch, dass sich mittelfristig neue Möglichkeiten in der Therapie eröffnen werden, erste entsprechende Ansätze zeigten derzeit gute Resultate. Die Idee des Forschers ist bestechend, aber auch ein wenig unheimlich: Statt zu versuchen, die Krebszellen zur Raison zu bringen, die umgangenen Kontroll- und Reparaturmechanismen also wieder in Aktion zu setzen oder die Zellen – medikamentös – mit einer externen Kampftruppe aus dem Verkehr zu ziehen, sieht der Forscher noch eine andere Strategie.
Ein neuer Therapieansatz könnte darin bestehen, Krebszellen nicht zu zügeln, sondern sogar noch weiter anzutreiben. Indem man Stress in allen Zellen erzeugt und sie so zu noch mehr Leistung anhält, könnte man insbesondere die Krebszellen über die kritische Schwelle schicken, in ein Burnout sozusagen. Für diese Art von Therapie ist ein Wirkstoff nicht dann interessant, wenn er sich dem Krebs entgegenstellt, sondern wenn er ihm hilft, wenn er weitere Kontroll- und Reparaturmechanismen ausschalten kann.
Gesunde Zellen würden das verkraften. Krebszellen hingegen könnte so ein Schubs endgültig aus der Balance bringen. Damit dies gelingt, müsse man aber genau erkennen können, wie prekär ihre molekularbiologischen Systeme funktionieren, wie nah sie schon an der kritischen Schwelle sind: «Denn man will die gefährlichen Zellen sicher über den Rand stossen, nur so kann man sichergehen, dass die Therapie sich tatsächlich gegen den Krebs richtet», sagt Altmeyer. Ein riskantes Spiel, aber eines mit grossem Potenzial. Denn es basiert auf einem vertieften Verständnis, was Krebszellen sind. Und was sie antreibt.