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Zwingli war gar nicht so knochentrocken, unsinnlich und lustfeindlich, wie es das Klischee will. «Es wird zum Beispiel gern vergessen, dass Zwingli ein musikalischer Mensch war», sagte Jan-Friedrich Missfelder im Talk im Turm. Die Zürcher Reformation habe ihre eigene Ästhetik gehabt.
Der Theologe Peter Opitz stellte die These auf, dass das ungerechte Negativ-Image Zwinglis als Langweiler und Spassbremse erst durch die Achtundsechziger-Generation verbreitet worden sei. Die Jugendbewegung habe alles, was sie bekämpfte, mit dem Zwingli-Etikett versehen. Im 19. Jahrhundert hätte die liberale geistige Avantgarde Zürichs noch ein sehr positives Bild von Zwingli gepflegt.
Opitz beschrieb Zwingli als humorvollen und lebensfrohen Menschen, der wenn nötig auch einmal auf Distanz zu sich selbst habe treten können. «Luther sagte: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Zwingli sagte dagegen: Wer einen besseren Vorschlag hat, soll ihn vorbringen.» Zwingli habe es verstanden, klares Denken mit Volksnähe zu kombinieren. Er habe – typisch schweizerisch– nie von oben herab gesprochen, sondern sich selbst als Teil des Volkes verstanden, sagte Opitz.
Auch andere typisch schweizerische Aspekte der Reformation waren Thema auf dem Podium – zum Beispiel die Bevorzugung einer dezentralen und partizipativen statt einer zentralistisch-hierarchischen Organisationsform. Viele Neuerungen Zwinglis kamen der Mentalität der selbstbewussten Stadtbürger entgegen. Auf die Frage, weshalb sich die Reformation so rasch ausbreiten konnte, antwortete Opitz lapidar: «Weil die Leute es so wollten.» Die Reformation fiel nicht vom Himmel. Sie war in den Köpfen schon vorbereitet.
Ganz ohne Druck von oben aber ging die Reformation doch nicht vonstatten: Wer den neuen Glauben nicht annehmen wollte, dem blieb als Alternative nur die Auswanderung in katholische Gebiete. Das Individuum war im 16. Jahrhundert dem Kollektiv noch klar untergeordnet, der Einzelne hatte sich zu fügen. Toleranz war im 16. Jahrhundert noch keine Kategorie.
Missfelder warnte als Historiker davor, heutige Vorstellungen von Aufklärung, Demokratie und individueller Freiheit auf die Reformationszeit zu projizieren. Damit würde die Reformation instrumentalisiert und der Blick auf die Eigenheiten dieser zeitlich weit entfernten Epoche verfälscht. Missfelder plädierte dafür, im Jubiläumsjahr der Reformation nicht nur jene Aspekte in Erinnerung zu rufen, die zur Identifikation einladen, sondern auch jene, die aus heutiger Sicht fremd und irritierend anmuten.