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Die experimentelle Forschung in der Ethik hat sich bisher schwergetan, die Komplexität der Alltagsmoral zu erforschen. Meist präsentiert man den Versuchspersonen aus dem Zusammenhang gerissene Fragen etwa zur Legitimität von Lügen oder gar drastische Dilemmas. Diese bringen das ethische Problem zwar auf den Punkt, doch sie verleiten in ihrer Holzschnittartigkeit die befragten Personen dazu, Antworten zu geben, die sich nicht mit ihren tatsächlichen Haltungen decken.
Um moralische Kompetenzen alltagsnäher zu messen und zu trainieren, ist die «Neuro-Ethics-Technology»-Forschungsgruppe am Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte nun daran, in einem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt ein Videospiel zu entwickeln.
Ziel ist es, die moralischen Kompetenzen von Spielerinnen und Spielern im Finanz- und Business- Bereich und in der Medizin zu fördern. So müssen die Spieler beispielsweise als externe Berater herausfinden, was in der Abteilung eines grossen Unternehmens nicht stimmt. Ihr Chef sitzt ihnen im Nacken und will Ergebnisse. Nun haben Sie die Möglichkeit, den Aktenschrank einer wichtigen Mitarbeiterin anzuschauen. Sollen Sie es tun? Oder ist der Schrank privat?
In der Forschung zeigt sich seit einigen Jahren ein bemerkenswerter Wandel in der Beurteilung von Videospielen aus ethischer Perspektive: Anstatt diese – insbesondere, wenn es um gewaltbetonende Inhalte geht – primär als eine Gefährdung für die Moral der Spielenden anzusehen, wird vermehrt die Idee vertreten, dass «prosoziale» Videospiele positive Effekte auf ihre moralischen Kompetenzen haben könnten.
In der wissenschaftlichen Literatur finden sich zunehmend Studien, die prosoziale Effekte von Videospielen belegen. So verführerisch der Umkehrschluss ist – wenn Gewaltspiele das Negative im Menschen begünstigen, warum sollen entsprechend anders gestaltete Spiele nicht das Gute fördern? – die wissenschaftlichen Fallstricke bleiben die gleichen.
In der seit vielen Jahren laufenden Gewaltspiel-Debatte wird zwar ein mittels psychologischer Methoden messbarer Effekt auf die Aggressivität von Spielerinnen und Spielern festgestellt. Inwieweit dieser aber auch in der Realität von Bedeutung ist, etwa durch ein höheres Risiko, kriminell zu werden, bleibt ungeklärt. Hinzu kommt die wiederkehrende Klage, viele Studien, die sich mit dieser Frage auseinandersetzen, seien qualitativ mangelhaft. Deshalb ist es wichtig, dass Videospiele, die moralische Kompetenzen messen und fördern sollen, theoriegeleitet entwickelt und experimentell genutzt werden.
In Zusammenarbeit mit Fachleuten der Zürcher Hochschule der Künste haben wir vor einigen Jahren den Begriff des «Serious Moral Game» (SMG) geprägt, um dieses Konzept zu beschreiben. Der Ausdruck soll zur Abgrenzung von Videospielen dienen, die vor allem der Unterhaltung dienen. Denn zunehmend kommen kommerzielle Spiele auf den Markt, in denen die Spielenden «ethische Entscheidungen » treffen – eine an sich schon bemerkenswerte Entwicklung. SMG sind insofern «ernsthaft», als sie sich primär mit Inhalten auseinandersetzen, die ausserhalb der Spielwelt von (ethischer) Bedeutung sind, beispielsweise der Entwicklung von ethischem Wissen, moralischen Kompetenzen oder prosozialem Verhalten.
Doch warum sollen Videospiele überhaupt als Werkzeuge der Ethikbildung dienen? Ein Vorteil liegt in der «Immersion», die solche Spiele ermöglichen: Spielerinnen und Spieler tauchen in eine fiktive Welt ein, die eine intrinsische Spielmotivation auslöst. Eine solche Fiktion funktioniert dann, wenn die Spielenden mit Spannung erwarten, welche Konsequenzen sich aus ihren Entscheidungen im weiteren Spiel ergeben. Sie widmen den Inhalten des Spiels ihre volle Konzentration und stehen der Lernerfahrung positiv gegenüber – sofern sie sich nicht durch das Spiel bevormundet oder manipuliert fühlen.
Berücksichtigt werden muss beim Design und bei der Nutzung von SMG, dass sich die Spieler nur im Rahmen einer fiktiven Welt mit moralischen Problemen befassen. Dies wirft Fragen auf, wie das Gelernte in die reale Welt übertragen wird. Bedenken in dieser Richtung gelten für die meisten moralpädagogischen Interventionen, die in der Regel ausserhalb des Rahmens stattfinden, in dem die erlernten Fähigkeiten genutzt werden sollen. Gerade aus diesem Grund wird das Training mit SMG eine pädagogische Einbettung verlangen – es wäre naiv, anzunehmen, dass das Spielen allein einen nachhaltigen Effekt auf das moralische Verhalten haben würde: Aus unserer Sicht sollten SMG bewährte Trainingsstrategien ergänzen und Anlass zur Reflexion und zur Erprobung neuer Strategien bieten.
Bei der Entwicklung eines solchen Spiels werden die Erkenntnisse der moralpsychologischen Forschung berücksichtigt. Wir orientieren uns dabei an der «moralischen Intelligenz», ein unter Federführung der UZH-Psychologin Carmen Tanner entwickeltes Modell, das die psychologischen Mechanismen von moralischem Handeln abbildet und mit den inhaltsbezogenen Komponenten (also den moralischen Werten, an denen das Individuum sein Verhalten orientiert) verbindet. Grob umschrieben meint moralische Intelligenz die Summe jener Fähigkeiten, die eine moralisch handelnde Person benötigt, um ihr Verhalten an moralischen Zielen auszurichten.
Die Stärke des Videospiel-Ansatzes liegt darin, dass sich die zahlreichen Erkenntnisse der Forschung – beispielsweise, dass bestimmte visuelle Hinweise oder die verwendete Sprache messbare Auswirkungen auf das moralische Verhalten haben – in die Narration, Spielmechanik und das Erscheinungsbild eines Videospiels vergleichsweise einfach einbauen lassen. Zudem wird jede Handlung im Spiel messtechnisch erfassbar. Ein Videospiel bietet damit einen komplexen, aber kontrollierbaren «Experimentalraum», der in bislang nicht erreichter Präzision Verhalten mess- und manipulierbar macht.
Ein weiterer Punkt ist, dass (komplexe) Videospiele auch Geschichten und Kontexte transportieren können und diese auch deutlich besser erlebbar machen als beispielsweise textbasierte Fälle, die heute die Ethikausbildung unter anderem in der Medizin oder der Wirtschaft prägen. Schliesslich entzünden sich moralische Fragen nicht im luftleeren Raum, sondern sie sind an konkrete Kontexte gebunden.
Dies wird insbesondere dann wichtig, wenn eine berufsbezogene Ethikbildung angestrebt wird. Moralische Probleme in der Medizin sind oft von anderer Art (beispielsweise in der Sterbehilfe) als solche in der Wirtschaft (etwa zum Thema Korruption). Im Rahmen eines vom Lehrkredit der Universität Zürich geförderten Projekts sind wir denn auch daran, unsere Forschung für die Ethikausbildung von Medizinstudierenden nutzbar zu machen.
Sollten wir unser Ziel erreichen und werden dereinst Medizinstudierende oder Führungskräfte in Unternehmen mittels Serious Moral Games ihre moralischen Kompetenzen verbessern, stellen sich ethische Fragen. Die durch solche Spiele gewonnenen Daten sind persönlicher Natur und müssen geschützt werden: Sonst werden sich Spieler nicht trauen, verschiedene Möglichkeiten durchzudenken und auszuprobieren, sondern sich nur in sozial erwünschter Weise verhalten und dabei womöglich wenig lernen. Daher dürfen solche Lernspiele beispielsweise nicht zur Personalselektion eingesetzt werden. Vielmehr sollte die Nutzung des Spiels unter anderem erlauben, Spieler im Sinne von Denkanstössen auf eventuelle «blinde Flecke» ihres Wertesystems aufmerksam zu machen.
Diesen Essay schreibt der Autor stellvertretend für ein Team bestehend aus Johannes Katsarov (Ethikzentrum UZH), David Schmocker und Carmen Tanner (beide vom Institut für Banking und Finance der UZH) und Fachleuten der Spielentwickler-Firma Koboldgames, das sich im Rahmen eines SNF-Projekts mit Serious Moral Games beschäftigt.