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«Mehr Mut zur Diplomatie»

Die Schweiz habe ihre passive Rolle zwar abgelegt, aber sie könnte sich vermehrt in internationalen Konflikten engagieren, sagte Micheline Calmy-Rey. Die ehemalige Aussenministerin sprach gestern an der UZH zu Herausforderungen der Schweizer Aussenpolitik.
Adrian Ritter
«Ich war als Aussenministerin weder bei meinen Auftritten noch bei meinen Zielen bescheiden», bilanzierte Micheline Calmy-Rey ihre Zeit als Bundesrätin.

Die Welt ist globalisiert, die Hegemonie des Westens zu Ende und die Machtzentren sind dezentral verteilt – mit den USA, Russland und China als grossen Playern: Mit dieser Bestandesaufnahme nahm die ehemalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey am Donnerstag in ihrem Referat an der UZH die Zuhörenden mit auf eine Reise in die Welt der Diplomatie und der internationalen Beziehungen. Eingeladen wurde sie vom Nationalen Forschungsschwerpunktes Demokratie, der an der UZH angesiedelt ist, und nach zwölf Jahren jetzt abgeschlossen wurde.

Die neue Weltordnung gehe mit wachsenden Ungleichheiten zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung einher, führte Calmy-Rey aus. Gleichzeitig hätten in den Augen vieler Menschen Politik, Staat und Demokratie an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Kein Wunder sei die Versuchung gross, in der Vergangenheit Zuflucht zu suchen. So untermaure China seine Ansprüche auf das Chinesische Meer mit Landkarten aus dem 16. Jahrhundert und Russland argumentiere, die Krim sei seit vier Jahrhunderten russisch.

Wie aber steht die Schweiz in der neuen Weltordnung da? Gar nicht so schlecht, so der Befund von Calmy-Rey: «Die wirtschaftlichen und finanziellen Grundlagen der Schweiz bieten Anlass zu Neid.» Die Entwicklungen der Globalisierung seien für unser Land, das wirtschaftlich offen sei und das Ziel verfolge, Handelshemmnisse zu reduzieren, grundsätzlich kein Nachteil. Die Schweiz habe seit der Finanzkrise grosse Widerstandskraft gezeigt und liege in Sachen Innovation und Wettbewerbsfähigkeit international an der Spitze.

Neue EU-Strategie gefragt

Etwas anders sehe es auf der politischen Ebene aus. «Die Schweiz sieht sich als Nicht-EU-Mitglied den tiefgreifenden Veränderungen alleine gegenübergestellt», sagte Calmey-Rey. Sie macht drei grosse Herausforderungen für die Schweizer Aussenpolitik aus.

Die erste Herausforderung betrifft die Stellung des kleinen Binnenmarktes Schweiz innerhalb Europas. Auch mit dem Inländervorrang "light" seien die Bilateralen Verträge noch nicht gerettet – man denke an die geplante Volksinitiative zur Abschaffung der Personenfreizügigkeit und die fehlende Einigung mit der EU bei der Klärung institutioneller Fragen. Weil ein entsprechender Kompromiss derzeit nicht in Sicht sei, gelte es umso mehr, die Zeit zu nutzen, um unsere Strategie gegenüber der EU zu überdenken. Calmy-Rey regte an, ein eigenes Staatssekretariat für Europafragen zu schaffen.

Gleichzeitig wünschte sie sich von der Europäischen Union, mehr Rücksicht zu nehmen auf ihre eigene Vielfältigkeit. Es sei nun mal eine Tatsache, dass Europa gerade nach dem Brexit in Zukunftsfragen gespalten ist: Ein Teil der Staaten fordert mehr, ein anderer Teil weniger Integration.

Rückzug aus der Welt

Die zweite Herausforderung für die Aussenpolitik sieht Micheline Calmy-Rey im weltweiten Engagement der Schweiz. Das Land habe sich lange aus der Weltpolitik herausgehalten. Man versuchte zwar, Sicherheit und Wohlstand zu sichern und seine Interessen zu verteidigen. Gleichzeitig hoffte man aber, sich aus der Weltpolitik möglichst heraushalten zu können.  «Die Schweiz war oft reaktiv und pflegte eine Haltung des Rückzugs aus der Welt», so Calmy-Rey.

Dem müsste nicht so sein, denn das Konzept der Neutralität begrenze sich auf zwischenstaatliche Kriege und lasse viel Spielraum für internationale Aktivitäten, sagte Calmy-Rey. Als Aussenministerin von 2003 bis 2011 versuchte sie mit ihrer aktiven Aussenpolitik diesen Spielraum auszunutzen.

«Bescheidenheit wird in der Schweiz sehr geschätzt. Ich war als Aussenministerin aber weder bei meinen Auftritten noch bei meinen Zielen bescheiden», sagte die Referentin. Sie habe in ihrem Amt schnell gemerkt, dass es der Schweiz gelingen könne, auch einer Grossmacht wie den USA ihre Position darzulegen und angehört zu werden.

In der Schweiz sei sie mit ihrem Auftreten allerdings nicht selten auf Unverständnis gestossen: «Ich hatte Mühe, den Schweizerinnen und Schweizern die Vorteile einer aktiven Aussenpolitik begreiflich zu machen.» So wurde sie etwa öffentlich gescholten, als sie bei einem Staatsbesuch im Iran ein Kopftuch trug. Damals stand sie vor dem Entscheid: Kopftuch tragen oder zurück in die Schweiz fliegen. «Wir haben uns für das Kopftuch und damit für Gespräche entschieden», sagte Calmy-Rey.

Proaktive Rolle

Die Zeit des Rückzugs aus der Welt ist vorbei. «Die Schweiz betreibt heute eine proaktive Aussenpolitik», stellte die Referentin mit Freude fest. Dies zeige sich nicht zuletzt an der Kandidatur für den UN-Sicherheitsrat. In diesem Zusammenhang plädierte Calmy-Rey für dringende Reformen der internationalen Organisationen. Diese würden den heutigen Kräfteverhältnissen und der Komplexität vieler Probleme nicht mehr gerecht.

Die neuen Kräfteverhältnisse machten es im übrigen auch der Schweiz schwer, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen und ihre Interessen zu verteidigen. Calmy-Rey plädierte für einen mutigeren Auftritt. Man habe manchmal den Eindruck, die Schweiz warte gerne die europäische Stellungnahme ab, bevor sie sich selber zu einem Thema äussert.

Mehr Mut in der Diplomatie würde auch helfen, die dritte grosse Herausforderung zu meistern, gab sich Calmy-Rey überzeugt: Auf der internationalen Bühne als attraktiver Partner anerkannt zu sein. Die Schweiz solle ihre Trümpfe ausspielen: Ihre Neutralität, ihre Glaubwürdigkeit und die hohe Qualität ihrer Diplomatie. Die Stärke der Schweiz sieht Calmy-Rey nicht in erster Linie darin, Verhandlungen zu einem Abschluss  bringen zu können: «Aber die Schweiz ist stark darin, Konfliktparteien überhaupt wieder miteinander ins Gespräch zu bringen.»

Diplomatie lehren

«Wir müssen uns auf der internationalen Bühne sehen lassen« forderte Calmy-Rey. Erfolgreiche Diplomatie suche nach Win-win-Situationen für beide Konfliktparteien, führte sie aus. Das können auch Gespräche über technische Fragen sein. Das Motto: Mit kleinen Schritten Vertrauen aufbauen. «Wir Schweizer sind Uhrmacher, auch in der Diplomatie», sagte Calmy-Rey. Es gehe darum, unideologisch Probleme offen zu analysieren. Eine Diplomatie, die ganz auf Dialog setzt und sich nicht scheut, das nötige Fachwissen etwa zu technischen Fragen einzubeziehen. Kein Wunder, nennt Micheline Calmy-Rey diese Methode «Diplomatic Engineering».