Navigation auf uzh.ch
Kaum ein anderes medizinisches Fach weckt in der Gesellschaft solche Emotionen und führt zu solch hitzigen Debatten wie die Psychiatrie. «Wir tun uns heutzutage immer noch schwer damit, psychische Störungen als Krankheit anzusehen», sagte Hoff an seinem Referat im Rahmen der Veranstaltungsreihe «Wissen-Schaf(f)t Wissen» des Zürcher Zentrums für Integrative Humanphysiologie (ZIHP). Psychische Erkrankungen seien stark stigmatisiert: Begriffe wie Depression, Schizophrenie oder Psychosen würden in der Gesellschaft nicht neutral, sondern oft abwertend verwendet. «Viele Betroffene schämen sich und versuchen, ihr psychisches Leiden zu verbergen», fügte Hoff hinzu.
Fachleute streiten seit Jahrhunderten um die Grundbegriffe und Definitionen von psychischen Krankheiten. Warum ist das so? «Kein anderes Fach bewegt sich derart im Spannungsfeld zwischen Biologie, Philosophie und menschlichen Wertvorstellungen wie die Psychiatrie», sagte Hoff. Es gebe verschiedene Antworten auf die Frage, was eine psychische Krankheit ist, erklärte Hoff.
Eine Möglichkeit bestehe darin, psychische Störungen objektiv als Erkrankungen des Gehirns mit biologischen Ursachen anzusehen. Diese Theorie wurde unter anderem von Theodor Meynert vertreten, einem österreichischen Psychiater des 19. Jahrhunderts. Doch psychische Erkrankungen können auch als individuelle Reaktionen auf Erlebnisse und Belastungen definiert werden. Wenn eine Person Erfahrungen nicht zu verarbeiten mag, kann sie depressiv werden oder eine Angststörung entwickeln. Diese biographische Definition von psychischer Erkrankung hatte in den 1950er-Jahren eine Blütezeit, als der biologische Blick auf psychische Krankheiten nach der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verpönt war. Während des Zweiten Weltkriegs hatten sich auch namhafte Psychiater an der Verfolgung und Vernichtung psychisch Kranker beteiligt.
Heute bewegen sich die Vorstellungen in einem Kompromiss zwischen diesen beiden Positionen. So hat sich über die Zeit einerseits die neurowissenschaftliche Psychiatrie sehr stark entwickelt. Sie beschäftigt sich unter anderem mit Veränderungen im Nervensystem, die eine Erkrankung begünstigen oder sogar verursachen. Auf der anderen Seite gibt es klare Hinweise, dass gewisse Lebensumstände psychische Störungen begünstigen konnen. «Es ist wichtig, die Lebensgeschichte des Menschen zu berücksichtigen», erklärte Hoff.
Gesund oder krank: Wer entscheidet?
Für die moderne Diagnostik kommt es aber nicht in erster Linie darauf an, ob es sich bei der psychischen Erkrankung um eine biologische Störung oder um die Reaktion auf schwierige Lebensumstände handelt. Sie nützt als Kriterien klare, idealerweise durch Beobachtung zugängliche Symptome, die in einem Katalog der Weltgesundheitsorganisation WHO festgelegt sind (ICD-10). Beispielsweise werden einer Depression 20 verschiedene Symptome zugeordnet.
Eine Patientin oder ein Patient gilt in diesem Kontext dann als depressiv, wenn mindestens 12 davon über einen Zeitraum von wenigstens 4 Wochen zutreffen. Eine solche klare Definition ist nicht nur für die Patienten gut nachvollziehbar, sondern sie vereinfacht auch den Austausch zwischen Fachleuten. Doch diese Definition werde nicht stur angewendet, versicherte Hoff: «Kein Arzt würde einem Patienten nicht helfen, nur weil er nicht genug Symptome aufweist.» Bei einer solchen Diagnostik sei zudem besonders schwierig, eine psychische Erkrankung von einer normalen, kurzfristigen Reaktion auf einen Schicksalschlag zu unterscheiden. Ausschlusskriterien wie beispielweise Todesfälle im engen Familienkreis können die Gefahr einer Pathologisierung von normalen menschlichen Reaktionen reduzieren.
«Eine immer und überall gültige Definition einer psychischen Störung gibt es nicht und kann es nicht geben», fasste Hoff zusammen. Kriterienlisten der WHO seien wichtige Hilfsmittel, um die Zuverlässigkeit einer Diagnose sowie den Austausch zwischen Fachleuten zu verbessern. Doch die Kriterien müssten immer in Hinblick auf die kulturellen Aspekte und Wertvorstellungen der Gesellschaft betrachtet werden. «Zudem erfassen Diagnosen nie einen Patienten als ganze Person, erklären nicht die Ursache der Krankheit und beinhalten keine Therapieempfehlung», sagte Hoff. Dafür brauche es viel Fachwissen, eine Beziehung auf Augenhöhe und Respekt für die Lebensgeschichte und die Wertvorstellungen des Patienten.