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Wolfram Groddeck, am Freitag wird Ihnen der Internationale Friedrich-Nietzsche-Preis verliehen. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Ich habe mich sehr darüber gefreut. Es ist schön, am Ende meiner Laufbahn – ich bin ja bereits seit drei Jahren emeritiert – eine solche Anerkennung zu bekommen. In letzter Zeit habe ich an verschiedenen Nietzsche-Tagungen teilgenommen und dabei das Gefühl gehabt, dass ich so etwas wie ein Doyen der Nietzsche-Forschung geworden bin. Dass es so schnell zu einer so bedeutenden Würdigung kommt, hat mich positiv überrascht.
Sie haben sich ein Forscherleben lang mit Friedrich Nietzsche auseinandergesetzt. Was fasziniert Sie an diesem Schriftsteller und Philosophen?
Ich hatte im Gegensatz zu vielen anderen keine pubertäre Beziehung zu Nietzsche. Ich habe erst spät damit begonnen, ihn zu lesen. Mein Interesse für Nietzsche hat sich über den Herausgeber und bekannten italienischen Nietzsche-Forscher Mazzino Montinari (1928–1986) ergeben, mit dem mich eine etwas ungleiche Freundschaft verband – er war ja eine Generation älter als ich. Montinari zeigte mir, dass Nietzsche jemand ist, der einen intellektuell und ideologisch befreien kann. Nietzsche ist oft so widersprüchlich, dass man zu jeder seiner Aussagen auch eine Gegenaussage findet. Das hat mit dem Prozess seines Denkens zu tun – das hat mich enorm fasziniert. Fasziniert hat mich auch der unglaubliche Reichtum an Gedanken, den es bei Nietzsche gibt.
Haben Sie ein konkretes Befreiungserlebnis bei der Nietzsche-Lektüre gehabt?
Groddeck: Anfang der 1980er-Jahre bin ich einmal von Basel nach Como gefahren. Auf dieser fünfstündigen Reise habe ich Nietzsches «Jenseits von Gut und Böse» ganz durchgelesen. Als ich dann in Como ausstieg, war ich völlig besoffen von diesen Texten. Ich sagte mir: «So denken können möchte ich auch.» Was Nietzsche zu einem Erlebnis macht, ist die sprachliche Präzision, gerade auch in den späten Schriften. «Der Antichrist», Nietzsches polemische Abrechnung mit dem Christentum, beispielsweise provoziert einen dermassen, dass man während der Lektüre eine eigene Position entwickeln muss – Nietzsche lesen ist eine dialogische Angelegenheit. Seine Texte bringen einen immer wieder in Situationen, in denen man auf sich selbst zurückgeworfen wird.
Was heisst es denn, wie Nietzsche zu denken?
Das hat viel mit eben dieser Sprache zu tun, die unvergleichlich ist. Deshalb kann man Nietzsche auch nicht nacherzählen, das wird immer furchtbar. Man muss in diese Sprache eintauchen und sich darin behaupten. Meine Lektüreerfahrung mit Nietzsche ist, wie gesagt, ein Befreiungsgefühl. Ich hatte entschieden linke Anfänge in meinem Denken, durch die Nietzsche-Lektüre hat sich das zwar eher vertieft, aber auch deutlich verfeinert. Populismus etwa finde ich unerträglich – egal, wie er politisch gefärbt ist.
Sie haben gesagt, Friedrich Nietzsche sei ein widersprüchlicher Denker gewesen – was macht diese Widersprüchlichkeit aus?
Man kann das an «Also sprach Zarathustra» zeigen, der Dichtung, die laut Nietzsche im Zentrum seines Werkes steht. Dort findet man beispielsweise den fürchterlichen Begriff des «Übermenschen», der in der Nietzsche-Rezeption mehr herumgeistert als bei Nietzsche selber. Von diesem Übermenschen sagt der Autor einerseits, er sei die «Zukunft dieser Erde», andererseits spricht er von einem «Wechselbalg», der auf einer Wolke sitzt. Beide Formulierungen findet man im selben Buch. Diesen Gegensatz muss man zu begreifen versuchen. So kommt man langsam in einen Zustand der – wie ich es nenne – intellektuellen Befreiung.
Apropos «Übermensch»: Der amerikanische Faschist Richard B. Spencer, der Chef-Ideologe der Alt-Right-Bewegung, die kürzlich in Charlottesville aufmarschiert ist, nennt Friedrich Nietzsche als eines seiner intellektuellen Vorbilder. Weshalb wird Nietzsche immer wieder von rechtsradikaler Seite vereinnahmt?
Ich habe mich auch geärgert, als ich diesen Satz zu Spencer kürzlich in der Zeitung las. Es ist vielleicht eine Schwäche von Nietzsches Werk, dass es sich vor solchen Vereinnahmungen nicht genügend schützen kann. Nietzsche hat eine Suggestivkraft, die gefährlich werden kann. Er pflegt auch gelegentlich einen kraftmeierischen Sprachduktus. Seine Texte sind aber gleichzeitig doppelbödig und ironisch. Wenn man diese Ironie nicht spürt – und das tun diese Leute nicht –, dann wird ein solcher Sprachgestus schwer verdaulich und auch sehr ärgerlich. Es ist eine Aufgabe der Nietzsche-Philologie, aufzuzeigen, dass der Philosoph mit rechtsradikalem Denken nichts am Hut hat. Man sollte aus den Inhalten von Nietzsches Denken keine Handlungsanleitung machen.
Was ist denn das Gegengewicht zum Kraftmeier Nietzsche?
Seine Ironie und Feinheit. Einer meiner Lieblingssätze von Nietzsche stammt aus seiner Selbstdarstellung «Ecce Homo». Dort schreibt er: «Weh mir, ich bin eine Nuance.»
Wie aktuell ist Nietzsches Denken heute – hat der Philosoph aus dem 19. Jahrhundert der Gegenwart etwas zu sagen?
Ich denke schon, ja. Die Aktualität Nietzsches zeigt sich allein schon darin, dass seine Texte auch heute noch zu provozieren vermögen.
Welches Buch von Friedrich Nietzsche würden Sie zur Lektüre empfehlen?
Persönlich mag ich besonders «Also sprach Zarathustra». Das hat mir übrigens auch schon Spott unter Kollegen eingetragen, weil viele das Buch als unlesbar und kitschig empfinden. Diese Einschätzung teile ich aber nicht. Das Buch ist vielmehr ein sehr kluges Sprach- und Denkexperiment und wartet immer noch auf gute Lektüren.