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Geographie

Digitale Pfadfinder

GPS und Smartphone helfen, schnelle Wege durch die Welt zu finden. Doch sie lassen unseren Orientierungssinn verkümmern. Dem will UZH-Geographin Sara Fabrikant entgegenwirken.
Fabio Schönholzer
Wie wir uns orientieren wird heute auch in virtuellen Umgebungen untersucht.

 

Unser heutiger Alltag ist mobil: Wir pendeln mit dem Zug zwischen Arbeit und Wohnung, fahren mit dem Auto zu Freunden oder bereisen in den Ferien fremde Länder. Um optimale Wege und Routen zu finden oder auch nur kurz den Zugfahrplan zu checken, nutzen wir unseren digitalen Pfadfinder und täglichen Begleiter: Das Smartphone. Das intelligente Gerät hat das menschliche Navigationsverhalten grundlegend verändert: Akkuleistung und GPS-Signal vorausgesetzt – führt es mit Karten-Apps wie beispielsweise Google Maps möglichst schnell von A nach B, allenfalls auch mit einem Abstecher über C. «Weil wir uns immer mehr auf die digitalen Assistenten verlassen, müssen wir auch Konsequenzen tragen: Unser innerer Navigationssinn verkümmert», sagt UZH-Geographin Sara Fabrikant.

Das hat die Forschung bewiesen: Der Anthropologe Claudio Aporta von der Carleton University in Alberta, Kanada, hat in einer Langzeitstudie das Navigationsverhalten der grönlandischen Urbevölkerug untersucht. Diese bewegte sich sicher und ohne Hilfe durch für uns völlig monotone Schneelandschaften, indem sie das Eis und Schneeverwehungen betrachtete. Mit der Verbreitung von GPS-Geräten wurde dieser natürliche Navigationssinn überflüssig und entwickelte sich immer mehr zurück. Heute navigiert man auch in Grönland fast ausschliesslich mit digitalen Assistenten.

Stress beeinflusst Navigation

«Digitale Navigationssysteme sind heute so selbstverständlich geworden, dass wir nicht darüber nachdenken, wann, wie und wo wir sie eigentlich nutzen», sagt Sara Fabrikant. Die Situationen, in denen wir die digitalen Pfadfinder einsetzen, sind sehr unterschiedlich. Sie beeinflussen auch den Entscheid, einen bestimmten Weg zu wählen. So entscheiden wir uns unter Stress und Zeitdruck wohl eher für die anstrengendere, aber kürzere Route, und wenn ein Sturm aufzieht, dann werden wir uns eher einen Weg durch Ladenpassagen suchen oder den Bus nehmen. Plötzlich müssen wir aufgrund von Wind, Wetter oder emotionalen Aspekten Entscheidungen treffen, die einen massgebenden Einfluss auf die persönliche Navigation haben. «Diese Einflüsse werden heute weder von den vorhandenen Navigationssystemen noch in der Forschung berücksichtigt», sagt Fabrikant.

In ihrem Video-Talk zum Digitaltag vom 21. November 2017 erklärt Sara Fabrikant ihre Forschung.

Doch wie können uns die neuen Technologien bei diesen Entscheidungen unterstützen? Und wie schaffen wir es, dass wir vor lauter digitalen Hilfsmitteln unseren natürlichen Orientierungssinn bewahren? Diese Fragen beantwortet Sara Fabrikant mit ihrem Forschungsprojekt EMOtive, das vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert wird und Teil der Digital Society Initiative der UZH ist. Mit einem völlig neuen Ansatz vereint Fabrikant dabei Neuro-, Kognitions- und Geographische Informationswissenschaften sowie Kartografie, um zu erforschen, wie Menschen mit den digitalen Karten interagieren – und dabei auch ihre Umwelt nicht vergessen. «Denn wenn die Navigationshilfen einmal ausfallen sollten, müssen wieder die Nutzerinnen und Nutzer übernehmen», sagt Fabrikant.

 

Mit einer virtuellen Stadt untersucht Sascha Credé (rechts) die Auswirkungen von Stress auf unseren Navigationssinn.

Simulierte Stadt

Ein dunkler Raum am Geographischen Institut des Campus Irchel: Im Forschungslabor von Sascha Credé hängen zahlreiche Kameras und Projektoren von der Decke. Der PhD-Kandidat untersucht, wie Menschen unter Stressbedingungen mit Hilfe von digitalen Assitenten navigieren. Mit 3D-Brille und Sensoren bestückt, schreitet man in seinem Experiment durch eine virtuelle Stadt. Ziel ist es, innert einer kurzen Zeitspanne zum Ort eines fiktiven Bewerbungsgesprächs gelangen und sich auffällige Gebäude in der Umgebung zu merken. Die Simulation ist dabei so realistisch, dass man sich an die Strassenregeln hält, auf den Verkehr achtet und die Strasse nur bei Fussgängerstreifen überquert.

Per Knopfdruck lässt sich eine Karte abrufen, die die aktuelle Position, die Umgebung und das Ziel zeigt. Während des Tests tickt unbarmherzig ein Countdown, und signalisiert mit penetrantem Piepton, dass die Zeit langsam, aber sicher abläuft. So erzeugt Credé Stress, der auch gemessen wird: Sind wir unter Druck, schwitzen wir leicht, dadurch ist unsere Haut leitfähiger. Ist man am Ort des fiktiven Bewerbungsgesprächs angekommen, ist die Übung aber keineswegs vorbei. Dann gilt es, sich an die markierten Gebäude der virtuellen Stadt zu erinnern und ihre ungefähre Richtung anzugeben. «So möchte ich erfahren, ob Stresssituationen uns daran hindern, unsere Umgebung wahrzunehmen – und wie wir dem entgegenwirken können», sagt Credé. Mit seiner Forschung erarbeitet er die Grundlagen, damit sich künftige digitale Karten dynamisch an den Gemütszustand der Nutzer anpassen können und beispielsweise für die Navigation hilfreiche Gebäude innerhalb einer Stadt besonders stark hervorheben. Dadurch wird vom Betrachter nur die nötigste Aufmerksamkeit verlangt, diese jedoch effizient für das Navigieren und Lernen eingesetzt.

Forschung im Feld: Annina Brügger (links) untersucht, wie digitale Hilfsmittel unsere Aufmerksamkeit beeinflussen.

Spaziergang durch Oerlikon

Nicht nur unser Gemütszustand, sondern auch die Interaktion mit den digitalen Hilfsmitteln beeinflusst, wie wir unsere Umgebung erfahren und uns orientieren. Eine optimale Balance zwischen Geräteunterstützung und menschlicher Wegfindung will Annina Brügger finden. «Durch den Blick auf das Navigationsgerät sind wir stark abgelenkt», erklärt sie. Das kann gefährlich werden, wenn man beispielsweise ein Auto übersieht, das gerade aus der Ausfahrt gebogen kommt. Aber wie viel technische Unterstützung ist bei der Orientierung überhaupt nötig, und wie viel können wir Menschen mit unseren individuellen Fähigkeiten beisteuern?

Brüggers rund 60 Studienteilnehmenden müssen in Oerlikon einer bestimmten Route folgen und können dabei zur Navigation einen digitalen Assistenten nutzen. Zudem tragen sie eine spezielle Brille, die ihre Blickrichtung registriert. Im Test wird alles aufgezeichnet: Worauf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in ihrer Umgebung achten, wann und wie lange sie auf ihr Navigationsgerät blicken – beispielsweise an einer Kreuzung – und welche Funktionen des Geräts sie nutzen.

Dabei legt die Forscherin ein besonderes Augenmerk darauf, welche Funktionen die Spaziergänger besonders ablenken. Ihre Untersuchung zeigt, dass wir uns auch bei einfachen Routen stark auf Hilfsmittel stützen und beispielsweise auf geraden Strecken unsere Position häufiger mit Hilfe des Gerätes verifizieren als unbedingt nötig. Zwischendurch werden die Teilnehmenden vom Gerät aufgefordert, sich mit der Umgebung auseinanderzusetzen und beispielsweise bestimmte Gebäude zu bestimmen und zu benennen. «Dadurch versuchen wir, die Interaktion zwischen Mensch und Umwelt trotz Einsatz von digitalen Hilfsmitteln zu verbessern», sagt Brügger.

Neue Wege sind das Ziel

Die Forschung der Gruppe um Sara Fabrikant leistet einen Beitrag zum besseren Leben in der digitalisierten Gesellschaft: «Wir wollen die Vorteile der neuen Technologien nutzen und gleichzeitig ihre negativen Folgen ausgleichen», sagt sie. Die neuartigen Untersuchungsmethoden sowie die im Labor und in der realen Welt erhobenen Daten von EMOtive sind die Grundlage für das nächste Forschungsprojekt, für das die Geographin von der EU einen mit 2,5 Millionen Franken dotierten ERC Advanced Grant erhalten hat.

Denken und Fühlen

Damit will sie weiter erforschen, wie Menschen unterwegs mit Kartendaten umgehen und wie digitale Assistenten diese aufbereiten müssen, damit unser Orientierungssinn nicht verkümmert. «Mit EMOtive haben wir an der Oberfläche der personifizierten digitalen Navigation gekratzt», sagt Fabrikant. Jetzt gehe es darum, diese sehr vielschichtige Thematik zu vertiefen. Konkret arbeitet sie in ihrem neuen Projekt auch am Design eines adaptiven Kartendisplays für die Navigationsunterstützung der Zukunft. Dieses soll nicht nur berücksichtigen, wo sich jemand befindet und wo jemand hinwill, sondern auch, wie die nutzende Person denkt und fühlt, und wie ihre Umwelt auf sie einwirkt. Mit audiovisuellen Feedbacks und zielgerichteten Aufforderungen soll zusätzlich das Raumwissen gestärkt werden.

Dazu wird das Gerät Technologien nutzen, die heute bereits im Einsatz sind, wie beispielsweise die Erkennung des Gemütszustandes durch in Smartphones eingebaute Kameras und Mikrofone. Weiter denkt Fabrikant an mobile Sensoren, die Hirnströme, Hautleitfähigkeit, Pulsfrequenz und Körpertemperatur messen, wie sie teilweise heute schon in Fitnesstrackern zu finden sind. Einer der künftigen Einsatzbereiche dieser Kartentechnologie sieht sie in autonomen Fahrzeugen. Fällt deren Navigationssystem aus oder sind die Routenvorschläge ungeeignet, müssen wir eingreifen und uns selbst durch die Strassen manövrieren. Das gelingt uns nur, wenn wir auch Wissen über unsere Umgebung haben, das durch neu entwickelte Karten auch gefördert wird.