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Andrew Lundgren kann sich noch genau an den 14. September 2015 erinnern. Es war elf Uhr morgens in Hannover, als ihn Marco Drago auf das Signal auf dem Computerbildschirm aufmerksam machte. In den USA, wo die Daten gemessen wurden, schliefen die Wissenschaftler noch. Bereits nach wenigen Tests war den Astrophysikern klar, dass es sich beim Ausschlag um das «echte» Signal einer Gravitationswelle handeln dürfte. «Die Daten stimmten haargenau mit den Prognosen überein, sie waren einfach perfekt», sagt Andrew Lundgren, Mitarbeiter des Gravitationswellen-Observatoriums LIGO (Laser Interferometer Gravitational-Wave-Observatory).
Drago ist der erste Mensch, der das epochale Signal gesehen hat, Lundgren der zweite. Eine knappe halbe Stunde dauerte die erste Überprüfung zusammen mit Kollegen beidseits des Atlantiks, dann alarmierten sie die rund tausend Forscherinnen und Forscher, die am Projekt involviert sind, mit einem E-mail. «Interesting event», teilten sie den Kollegen zurückhaltend mit. Unterdessen wissen wir, die Messung vom 15. September war ein Jahrhundert-Coup.
Nun sitzt der Physiker vom Albert Einstein Institut aus Hannover im Büro von UZH-Forscher und Einstein-Spezialist Philippe Jetzer, zusammen mit seiner Forscherkollegin Ruxandra Bondarescu und dem Doktoranden Andreas Schaerer, und berichtet vom denkwürdigen Ereignis, das die Wissenschaftsgemeinde in Begeisterung versetzt. Albert Einstein hatte die Existenz dieser Wellen vor 100 Jahren aus seiner Allgemeinen Relativitätstheorie abgeleitet, direkt gemessen wurden sie bisher noch nie. Denn die Signale sind sehr schwach und benötigen atemberaubende Präzisionsmessungen in der Grössenordnung eines Bruchteils eines Wasserstoff-Kernes – eine Genauigkeit, die erst mit der verbesserten Empfindlichkeit von «Advanced LIGO» erreicht werden konnte.
Eigentlich befand sich das Observatorium noch im Testlauf-Modus, als die Gravitationswelle über die beiden Anlagen in Hanford (Washington) und Livingston (Louisiana) hinwegzog. Als Lundgren und Drago durch die Signale überrascht wurden, waren sie mit Funktionsprüfungen der komplexen LIGO-Maschinerie beschäftigt, die «remote» im fernen Hannover durchgeführt wurden. Doch zum Glück war die Identifikation in diesem Stadium möglich, sonst wären die Wellen unerkannt weiter gezogen – eine einmalige Gelegenheit wäre vertan gewesen. So war auch einiges Glück im Spiel. «Der Nachweis durch die beiden Laserinterferometer ist absolut überzeugend», sagt Andrew Lundgren. Wichtiger Teil der Bestätigung war die zeitversetzte Beobachtung des Signals in den beiden LIGO-Observatorien, die innerhalb von Millisekunden registriert wurden – ganz im Einklang mit Einsteins Theorie.
Faszinierend ist, was die Physiker aus den wellenförmigen Signalen herauslesen können, die sich im hörbaren Frequenzbereich zwischen 50 und 500 Hertz befinden. Die Wellen wurden vor rund 1.3 Milliarden Jahren durch die Fusion zweier schwarzer Löcher generiert, bei der gewaltige Massen in Gravitationsenergie umgewandelt wurden. Seit dieser Zeit bewegen sich die Gravitationswellen mit Lichtgeschwindigkeit durch den Raum und hinterliessen auf der Erde letzten September ihre Spuren.
«Überraschend ist die berechnete Grösse der beiden schwarzen Löcher», sagt Lundgren. Sie liegen in der Grösse zwischen 36 und 29 Massen unserer Sonne (Sonnenmassen) und sind damit deutlich grösser als erwartet. Bei der Fusion entstand ein neues schwarzes Loch von rund 62 Sonnenmassen, das heisst etwa 3 Sonnenmassen wurden in Gravitationsenergie- und -wellen verwandelt. Überraschend sei zudem, so die Physiker, dass das entstandene Schwarze Loch mit rund 6000 Umdrehungen pro Minute rotiert, etwa so rasch wie ein Automotor in hoher Drehzahl.
«Dank den Gravitationswellen-Observatorien können wir schwarze Löcher erstmals sehen», sagt Ruxandra Bondarescu, die sich mit Einsteins Theorie beschäftigt und mit Lundgren zusammen arbeitet. Diese neue Sicht aufs Universum ist das, was die Astrophysiker derzeit so begeistert. «Es ist vergleichbar mit dem ersten Teleskop Galileo Galileis, das auf den Mond gerichtet wurde. Jetzt können wir erstmals schwarze Löcher beobachten und charakterisieren», sagt Lundgren.
Die Physiker erwarten deshalb Schub für weitere Laserinterferometer, die geplant oder in Entwicklung sind. Speziell das Projekt LISA, einem Laserinterferometer im Weltraum, an dem Philippe Jetzer als Mitglied des wissenschaftlichen Komitees beteiligt ist, dürfte profitieren. Denn die LISA-Detektoren werden mit einer Distanz von einer Million Kilometer viel weiter voneinander entfernt sein als die vier Kilometer auseinanderliegenden Spiegeldektektoren von LIGO. «Wir können viel weiter hinaus in den Weltraum blicken und Supermassive Schwarze Löcher mit Millionen von Sonnenmassen messen», sagt Jetzer. Auch die Frequenzen liegen mit zehn hoch minus fünf bis einem Hertz in einem tieferen im Bereich. LISA werde die schwarzen Löcher im Zentrum von weit entfernten Galaxien aus den Anfängen des Universums sichtbar machen, hofft Jetzer. Das eLISA-Projekt, dessen Konzept zurzeit mit LISA Pathfinder getestet wird, soll 2034 erste Daten liefern. Im Dezember 2015 wurde der Satellit ins All geschossen, anfang dieser Woche wurden die Testmassen in LISA Pathfinder freigesetzt. Anhand der freischwebenden Würfel wird das Konzept der Interferometrie-Messung geprüft.
Statt einer Schwächung der Gravitationswellen-Interferometrie habe die geglückte Messung durch LIGO eine Stärkung des Forschungsfeldes zur Folge, sagen Jetzer und seine Kollegen. Gut möglich sei, dass nun auch ein Umdenken bei den amerikanischen Förderungsinstitutionen einsetzt und die Nasa bei LISA wieder einsteigt. Denn die amerikanische Raumfahrtbehörde kürzte aus Spargründen ihre Mitarbeit, was eine schmerzliche Redimensionierung zur Folge hatte. Jetzt, wo LIGO den erstmaligen Nachweis erbracht hat, steigt das Interesse. Die Messungen von Gravitationswellen versprechen noch viele Überraschungen über unser Universum – und da will niemand abseits stehen.