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Das Gerät, das Gerontopsychologe Mike Martin dem Publikum im Talk im Turm vorstellte, wiegt nur fünfzig Gramm. Man kann es in die Jackentasche stecken oder am Gürtel tragen. Fortlaufend zeichnet der unscheinbare Begleiter auf, ob und wie wir uns bewegen und ob wir gerade lachen, sprechen oder schweigen. Anhand unzähliger Daten lässt sich so ein Gesamtbild darüber erstellen, wie wir uns im Alltag verhalten.
Der kleine Sensor steht für einen Wendepunkt in der Gesundheitsforschung. Sie fand bisher vorwiegend im Labor statt. Blutwerte wurden analysiert und die Fitness wurde getestet – dies aber nur in grösseren Abständen. Die Aussagekraft solch punktueller Messungen war beschränkt, denn ob wir gesund sind oder nicht, bestimmen nicht einige wenige, sondern tausende von Faktoren, die auf komplexe Weise zusammenwirken, wie Mike Martin erklärte.
Im Herbst letzten Jahres lancierte Mike Martin mit einem interdisziplinären Forschungsteam ein Projekt, das genauer darüber Aufschluss geben soll, wie ältere Menschen gesund bleiben. Der Schlüssel dazu ist besagtes Gerät. Es dient der Vermessung des Alltags einzelner Individuen. Über Monate und Jahre hinweg erfasst es in jeder Sekunde verschiedenste Daten zu alltäglichen Verrichtungen.
Die Probandinnen und Probanden erheben ihre Daten selbst und können sie selbst einsehen. Welche Daten sie der Wissenschaft zur Verfügung stellen wollen und welche nicht, entscheiden sie selbst. Bei der Auswertung der Ergebnisse werden sie von Forscherinnen und Forschern am Zentrum für Gerontologie unterstützt.
Mike Martin ist überzeugt, dass das digitale Monitoring des Alltagsverhaltens speziell älteren Menschen helfen kann, ihr Wohlbefinden zu verbessern. Denn die Datenanalyse macht Verhaltensmuster sichtbar, die einem häufig gar nicht bewusst sind. Sie erlaubt es, die subjektive Befindlichkeit in eine Korrelation zu objektiven Daten zu setzen und auf diesem Weg herauszufinden, welche Verhaltensweisen einem gut tun und welche nicht.
Auch die Wirkungsprüfung von Medikamenten könnte mit dieser Messmethode erheblich präzisiert werden, sagte Martin. Sie vermittle ein präzises Bild davon, welchen Einfluss eine medikamentöse Behandlung auf den Allgemeinzustand eines Patienten oder einer Patientin hat. Das Sparpotential einer solchen Wirkungsüberprüfung sei gross, denn rund 20 Prozent aller ärztlich verschriebenen Pillen und Tröpfchen würden von den Patientinnen und Patienten gar nicht eingenommen – also de facto weggeworfen –, weil sie nicht die gewünschte Wirkung erzielten. Das entspreche, rechnete Mike Martin vor, einem Wert von 1,2 Milliarden Franken pro Jahr.
Markus Christen bewertete Mike Martins Projekt aus der Warte des Ethikers überwiegend positiv. Er lobte insbesondere den emanzipatorischen Aspekt des Projekts. Es ermögliche den Teilnehmenden, ihre Gewohnheiten selbständig zu überprüfen und gezielt zu korrigieren.
Generell sei die Digitalisierung der Gesundheitsforschung aber auch mit Risiken verbunden, sagte Christen. So sei zum Beispiel die Frage, wem die Daten und die ihnen zugrundeliegenden Algorithmen gehörten, in vielen Fällen nicht abschliessend geklärt. Bedenken meldete Christen auch im Hinblick auf die Datensicherheit an. Daten zum persönlichen Gesundheitszustand seien hochsensibel. Wer sie zuhause auf dem privaten PC abspeichere, müsse sich bewusst sein, dass sie dort leicht gehackt werden könnten.
Ein weiteres Problem ergibt sich laut Christen aus der Interpretationsoffenheit der Daten. Was sich aus einem Datensatz alles herauslesen lasse, hänge von der Kreativität und dem Können der Interpreten ab, sei also schwer vorherzusehen. «Wer die Zustimmung zur Datenverwendung gibt, kann nie wissen, wofür genau er die Zustimmung gibt», sagte Christen. Es sei deshalb aus ethischer Sicht von grosser Bedeutung, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Integrität der Daten gewährleisteten, sie also nur in klar definierten Zusammenhängen gebrauchten.
Ausserdem sei darauf zu achten, dass Nutzerinnen und Nutzer von Messgeräten die Entscheidungshoheit über ihr Verhalten bewahren könnten. Sie dürften nicht «zum Rädchen in einer riesigen Datenmaschine» werden. «Der Mensch soll Chef sein, nicht die Maschine», sagte Christen.
Mike Martin und Markus Christen waren sich einig, dass die Digitalisierung der Gesundheitsforschung das bisherige Verhältnis von Forschenden und Erforschten verändert. Wenn Probandinnen und Probanden ihre Daten selbst erheben und auswerten, würden sie ein Stück weit selbst zu Forschenden. Entscheidend sei dabei, dass sie sich Klarheit darüber verschafften, wie Messergebnisse zustande kommen. Nur wer Einblick in die Berechnungsmethoden habe, könne Daten richtig deuten.
Mike Martin begrüsst die Veränderungen im Rollenverhältnis von Forschenden und Erforschten. «Wenn Laien sich wissenschaftliche Kompetenzen aneignen, kommt das nicht nur ihnen selbst zugute, sondern auch der Forschung», sagte er.