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Am 5. Juli 1891 sagte das Schweizer Volk Ja zu einer Verfassungsänderung. Fortan war es möglich, einzelne Artikel der Bundesverfassung per Volksentscheid zu ändern. Damit wollte man die Bürger im noch jungen Bundesstaat stärker am politischen Prozess mitwirken lassen. Und heute zeigt sich: Volksinitiativen erfreuen sich zunehmender Beliebtheit: Seit 1891 kamen insgesamt 203 Volksinitiativen zur Abstimmung, 22 wurden angenommen. Viele wurden erst in den letzten zehn Jahren lanciert. Doch in jüngster Zeit mehrt sich auch die Kritik am Instrument der Volksinitiative. Eine der Forderungen lautet, sie sei unter ganz anderen politischen Rahmenbedingungen eingeführt worden und müsse dringend reformiert werden. Rechtsprofessor Andreas Kley nimmt im Interview mit UZH News Stellung.
Herr Kley, muss das Instrument der Volkinitiative reformiert werden?
Andreas Kley: Die Frage kann man nur richtig beurteilen, wenn man der Antwort eine langfristige Perspektive zugrunde legt. Es trifft zu, dass in den letzten zehn Jahren zum Teil fragwürdige Initiativen angenommen worden sind, wie etwa die Minarett-, die Ausschaffungs- oder die Verwahrungsinitiative. Das darf aber den Blick nicht verstellen. Auf lange Sicht haben manche Initiativen dafür gesorgt, dass die direkte Demokratie der Schweiz sich als funktionsfähig und vor allem integrativ erwiesen hat.
Welche Initiativen waren langfristig gesehen besonders wichtig für die Schweiz?
Andreas Kley: Die Proporzinitiative von 1918 führte das Proportionalwahlrecht für die Wahl des Nationalrates ein. In der Folge setzte eine umfassende Proportionalisierung des politischen Lebens ein, die das Konkordanzprinzip erst möglich machte. 1935 und 1937 verwarfen Volk und Kantone zwei frontistische Initiativen – die Totalrevision und das Freimaurerverbot – so heftig, dass die Schweizer Rechtsextremisten politisch erledigt waren.
Für den Ausbau der Sozialversicherung seit 1925 waren linke Initiativen taktgebend, auch wenn sie scheiterten oder nur in Form von Gegenvorschlägen durchkamen. Die Initiativen der letzten zehn Jahre können dieses positive Bild nicht trüben.
Man darf nicht vergessen, dass die Volksinitiative in der Form des ausgearbeiteten Entwurfs eine direkte Konkurrenz für das Parlament darstellt. Die Bundesversammlung verhält sich auch entsprechend, wie das sich bei manchen Initiativen zeigte.
An welche Initiativen denken Sie dabei?
Andreas Kley: Die Opposition des Parlaments gegen das Volk als direkter Rechtsetzer zeigte sich etwa im Fall der Preisüberwachungs- (1982), der Alpen- (1994) oder der Zweitwohnungsinitiative (2012). Hier war die Umsetzung sehr lückenhaft. Im Falle der Preisüberwachung machte man eine zweite, sozusagen eine Art «Durchsetzungsinitiative», und das Parlament passte dann das Preisüberwachungsgesetz an, womit die Initiative zurückgezogen werden konnte.
Hat die Volksinitiative nicht auch eine Oppositionsfunktion gegen das Parlament?
Andreas Kley: Was ein massgeblicher Schöpfer der Volksinitiative, Ständerat Theodor Wirz 1890 gesagt hatte, trifft noch heute unverändert zu. Wirz kritisierte das «selbstherrliche» Parlament, namentlich den Nationalrat, und stellte die rhetorische Frage: «Welches Volksrecht wurde nicht von den bisherigen Kuratoren des Volkes als gefährlich und revolutionär bezeichnet? Wer soll schliesslich König und Herr im Lande sein?» Wirz und die Mehrheit des Ständerates lehnten die Beschränkung auf die Form der allgemeinen Anregung ab. Es sei «eine Ehrensache für den Ständerat, wenn er viel rückhaltloser als der Nationalrat die magna charta libertatum in die Hand des Schweizervolkes» lege.
Dieses klare Votum hinderte dann aber die Bundesversammlung nicht daran, der Volksinitiative verschiedene Hindernisse in den Weg zu legen, namentlich das Verbot des doppelten Ja. Denn für die Parlamentarier ist jede Initiative eine Initiative zu viel.
Wieso das?
Andreas Kley: Die Bundesversammlung nutzte von Anfang an die Chance, Volksbegehren mit einem Gegenvorschlag zu bekämpfen und führte ein einstufiges Verfahren mit einem Verbot des doppelten Ja ein. Der Effekt war, dass die änderungswilligen Stimmbürger sich in jeweils in zwei Gruppen aufspalteten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Anliegen scheiterte, nahm damit zu. Der Gegenvorschlag erwies sich als eine wirksame Waffe zur Erledigung von Initiativen. Erst die Zulassung des doppelten Ja im Jahr 1987 setzte diesem unfairen Verfahren ein Ende.
Welche weiteren Methoden entwickelte die Bundesversammlung, um ungeliebte Initiativen zu stoppen?
Andreas Kley: Ab 1930 stoppten Bundesrat und Bundesversammlung die schon damals beklagte «Überproduktion an Volksbegehren» auf einfache Weise. Sie nahmen die Gewohnheit an, gültige eingereichte Volksinitiativen auf Teilrevision der Verfassung während Jahren liegenzulassen. Später schrieb man die Initiativen ab, ohne sie der Abstimmung zu unterstellen. Oder man setzte die Abstimmung nach verspätet an – zu einem Zeitpunkt, als sie jede politische Relevanz verloren hatten.
Schliesslich erfanden die Bundesbehörden neue materielle Ungültigkeitsgründe, wie etwa die Völkerrechtswidrigkeit, das Rückwirkungsverbot oder die Frage der Durchführbarkeit. Diese Ungültigkeitsgründe werden heute intensiv diskutiert. Eine klare Praxis wurde nicht entwickelt.
Was muss sich Ihrer Ansicht nach ändern?
Andreas Kley: Ich halte die Volksinitiative für ein wichtiges und erfolgreiches Korrektiv der repräsentativen Demokratie. Grundsätzlich muss man nichts ändern. Wollte man neue Ungültigkeitsgründe wirklich einführen, so müsste die Verfassung geändert werden. Als Kontrollorgan dürfte nicht mehr die Bundesversammlung amtieren, sondern es müsste ein unabhängiges Verfassungsgericht darüber wachen, dass diese Kriterien korrekt und nicht nach politischen Gesichtspunkten angewendet werden.