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Neonatologie

Wiegenlieder für Frühchen

Frühgeborene haben einen schweren Start ins Leben. Musik kann ihre Entwicklung fördern und den Stress, den sie auf der Intensivstation erleben, mindern. Friederike Haslbeck arbeitet in der Klinik für Neonatologie des Universitätsspitals Zürich mit musiktherapeutischen Massnahmen.
Maurus Immoos
Die Kraft der Musik: An der Klinik für Neonatologie am Universitätsspital Zürich hilft Musiktherapie Frühgeborenen, den schweren Start ins Leben zu meistern. (Bild: habun/iStockphoto)

Rafael kommt in der 25. Schwangerschaftswoche zur Welt – also rund 15 Wochen vor dem regulären Geburtstermin. Sofort wird er auf die Neonatologie-Intensivstation ins Universitätsspital Zürich verlegt. Anstatt im Bauch der Mutter muss Rafael nun in einem Brutkasten heranreifen und künstlich beatmet werden. Umgeben von Schläuchen, piepsenden Monitoren und medizintechnischen Geräten wird er Geräuschen und Reizen ausgesetzt, die er aus dem Mutterleib nicht kannte. Nicht nur für das Frühgeborene ist es ein Schock, dass es das Licht der Welt viel zu früh erblickt hat, sondern auch für seine Eltern. Das Gefühlskarussell zwischen Freude, Trauer, Hilflosigkeit und Sorge um die Zukunft ihres Kindes beginnt sich zu drehen.

Ungeborene beginnen schon früh, den Herzschlag ihrer Mutter wahrzunehmen. Bereits in der 8. Schwangerschaftswoche stellt sich bei ihnen ein Druckempfinden ein. Ab der 23. Schwangerschaftswoche ist das Gehör von Babys dann so weit ausgebildet, dass sie Geräusche bewusst hören können. Für Rafael bedeutet die neue Lärmkulisse, mit der er auf der Intensivstation konfrontiert wird, den reinsten Stress. Da er nicht weghören kann, ist er dem Lärm schutzlos ausgeliefert. Um ihn zu beruhigen und abzulenken, singt Rafaels Vater ihm jeweils das Lied «Somewhere over the Rainbow» vor. Das funktioniert so gut, dass Rafael sogar mit Gesten auf die Stimme seines Vaters reagiert und sich seine Atmung verbessert. Sie wird tiefer und ruhiger.

Atempausen und Gelbsucht

Da ihre Organe noch nicht voll entwickelt sind, haben Frühchen einen denkbar schweren Start ins Leben. Wegen ihres unreifen Immunsystems neigen sie dazu, an Infektionen zu erkranken. Auch kann es zu Hirnblutungen oder zu einer Neugeborenengelbsucht kommen, weil die Leber noch nicht voll ausgereift ist und Mühe hat, die im Blut entstehenden Abfallprodukte zu entsorgen. Oft leiden Frühgeborene unter Atempausen, sogenannten Apnoen, was zum Abfall der Sauerstoffsättigung im Blut und zu einer Verlangsamung der Herzfrequenz führen kann. Dank medizinischer Fortschritte und medikamentöser Behandlung haben Frühchen, die in der 27. Schwangerschaftswoche mit einem Gewicht von 800 g und einer Grösse von 30 cm auf die Welt kommen, heute gute Überlebenschancen.

Die Klinik für Neonatologie am Universitätsspital Zürich geht nun neue Wege in der Versorgung von Neugeborenen. Neben einer intensivmedizinischen und pflegerischen Betreuung bietet sie für Frühchen und ihre Eltern auch Musiktherapien an. Bedingt durch den Stress leiden viele Frühgeborene unter Verspannungen, was ihre Atmung beeinträchtigt. Mit Hilfe von Musik soll diese Anspannung gelöst werden, damit sie wieder tiefer und regelmässiger atmen. Dadurch produzieren sie mehr Energie, die sie für ihr Wachstum so dringend benötigen.

Ausgebildete Geigerin, Pianistin und Musiktherapeutin Friedericke Haslbeck: «Musiktherapie als eine Form von Kommunikation, um mit Frühgeborenen in Kontakt zu treten.» (Bild: zVg)

Von der Musik zur Therapie

Seit 2013 nimmt sich Friederike Haslbeck der Kleinsten an. Als ausgebildete Geigerin, Pianistin und promovierte Musiktherapeutin setzt sie seit 2013 die musiktherapeutischen Massnahmen in der Klinik für Neonatologie um. Ihr Weg von der Musikhochschule in die Frühgeborenenabteilung mag unkonventionell erscheinen. Es war für die aus einer musikalischen Pfarrersfamilie stammende Friederike Haslbeck jedoch ein bewusster Entscheid: «Ich bin Musikerin – aber nicht nur. Ich bin gerne kreativ tätig und arbeite unglaublich gerne mit Menschen, deshalb bin ich auch Musiktherapeutin geworden. Zudem habe ich hier die Möglichkeit, Forschung zu betreiben.»

Bevor Haslbeck jeweils die Therapie mit einem Neugeborenen beginnt, begibt sie sich in den Kontrollraum der Intensivstation. Dort befinden sich viele Bildschirme, die diverse Kurven und Daten zeigen. Auch hier piepst und rattert es. In diesem Raum kontrolliert sie, ob eine Therapiesitzung für die Kleinen überhaupt zumutbar ist.

Heute ist Lars* an der Reihe. Die angezeigten Sauerstoffsättigungswerte, der Puls und die Herzfrequenz des Jungen bewegen sich im Rahmen und lassen eine Therapie zu. Haslbeck begibt sich zum Brutkasten, in dem Lars liegt. Sie öffnet die Seiten klappe, berührt mit der linken Hand sein Köpfchen und mit der rechten seine Beinchen. Danach fängt sie an, langsam und ruhig zu summen.

Bereits nach wenigen Minuten beruhigen sich Lars’ Herzfrequenz und sein Puls deutlich. Plötzlich ist ein lautes Bimmeln zu hören. Es geht vom Kontroll monitor aus. Der Wert, der den Sauerstoffsättigungsgehalt in Lars’ Blut angibt, schlägt nach oben aus. Dies ist ein positives Zeichen, die künstliche Sauerstoffzufuhr kann zurückgedreht werden. Lars reagiert auf Haslbecks Summen, indem er die kleinen Fingerchen seiner linken Hand spreizt und ihr mit dem einen Äuglein zublinzelt. Nach rund zwanzig Minuten ist die Sitzung zu Ende.

Trauer, Freude, Angst und Sorge

Bei Lars’ Reaktionen handelt es sich nicht bloss um einen glücklichen Zufall. Denn aus wissenschaftlichen Studien ist bekannt, dass sich Musiktherapie sowohl positiv auf physiologische Effekte, wie eben Sauerstoffsättigung, Atmung und Puls, auswirken, als auch auf Entwicklungsfunktionen wie Schlaf, Nuckelund Essverhalten.

Für Haslbeck ist Musiktherapie eine Form von Kommunikation, die sie nutzt, um mit Frühgeborenen in Kontakt zu treten. Indem sie ihren Atemrhythmus summt und in einem späteren Stadium auch singt, kann sie mit den kleinen Patienten eine Verbindung aufbauen und sie therapeutisch leiten. «Atemrhythmus und Herzschlag sind ganz ursprüngliche musikalische Elemente», betont Haslbeck, «bei Frühgeborenen sind beide noch sehr störungsanfällig.»

Haslbeck stützt sich auf einen Ansatz von Paul Nordoff und Clive Robbins, die die «Schöpferische Musiktherapie» Anfang der 1990erJahre hauptsächlich für autistische Kinder entwickelt hatten. Sie hat Nordoffs und Robbins sehr musikzentrierte Methode nun auf Frühgeborene adaptiert. Falls es ein persönliches Lied der Eltern gibt, das sie bereits vor der Geburt dem Baby vorgesungen haben, oder eines, das in ihrer eigenen Kindheit von Bedeutung war, verwendet Haslbeck dieses in den Therapiesitzungen.

Keine schöneren Stimmen

Der Umgang mit diesen Liedern kann sehr kreativ sein. So gab es einen Vater, der seinem Kind jeweils «Hallelujah» von Leonard Cohen vorgesungen hat. Gemeinsam mit der Mutter dichteten sie es um und sangen abwechselnd Strophe für Strophe. Damit konnten die Eltern nicht nur ihre Erlebnisse nach der Geburt gemeinsam verarbeiten, sondern auch eine Beziehung zu ihrem Kind aufbauen.

«Nach einer Geburt haben Eltern ganz viele Gefühle gleichzeitig; Trauer, Freude, Angst und Sorge. Diese kann man ganz gut in Liedern verarbeiten. Und bei Musik, da sind in unserer Gesellschaft Gefühle noch okay», sagt Haslbeck. Der Einbezug der Eltern ist auch aus einem anderen Grund sehr wichtig, denn für Kinder gibt es keine schöneren und wichtigeren Stimmen als die von Mutter und Vater. Diese haben sie im Bauch schon gehört und sie wirken in ihren Ohren vertraut. Studien belegen, dass Babys Lieder in ihrer Muttersprache bevorzugen.

Haslbeck lässt deshalb Eltern, die aus anderen Kulturkreisen kommen, Wiegenlieder in deren Sprache vorsingen und versucht von ihnen Text und Betonungen zu lernen, um sie selbst in der Musiktherapie einzusetzen. «Zum Glück gibt es in jeder Sprache Wiegenlieder, die ich gut lernen kann», meint sie mit einem Schmunzeln, «es kann durchaus vorkommen, dass hier auf der NeonatologieStation türkische Kinderlieder, brasilianische Melodien oder tibetische Heilgesänge zu hören sind.»

Hirn musikalisch stimulieren

Friederike Haslbeck ist nicht nur therapeutisch tätig. Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team erforscht sie an der medizinischen Fakultät der Universität Zürich die Kurzund Langzeitwirkungen von «Schöpferischer Musiktherapie» auf die kindliche Gehirnentwicklung.

Bei Frühgeborenen sind gewisse Hirnbereiche nicht so gut ausgeprägt wie bei termingeborenen Kindern. Und genau dann, wenn die Kinder auf der Station sind, befinden sie sich in einer für die Gehirnentwicklung äusserst sensiblen Phase. Im Uterus ist die Sinneswelt ganz fein abgestimmt auf jeden Entwicklungsschritt des Kindes. Hohe Töne erreichen beispielsweise das Gehör des Fötus nicht, weil sie durch die Mutterwand gedämpft werden.

Gleichzeitig werden die Ungeborenen vom Rhythmus des Herzschlags und von den Geräuschen im Mutterleib stimuliert. In dieser Zeit verbinden sich Synapsen oder sie verkümmern. Aus der Forschung ist bekannt, dass Musik viele Gebiete im Gehirn gleichzeitig aktiviert und stimuliert, wie beispielsweise den Hirnstamm, sowie emotionale und kognitive Areale. Mit Hilfe von Musiktherapie möchten Friederike Haslbeck und ihre Forschungspartner nun die Gehirne von Frühgeborenen adäquat stimulieren.

Um die Entwicklung der Kinder, die an der Studie teilnehmen, zu erfassen, werden diese bis ins fünfte Lebensjahr beobachtet. Erste Resultate sind voraussichtlich im nächsten Jahr zu erwarten. Rafael übrigens befindet sich heute gesund und munter zu Hause bei Mama und Papa. Und noch immer geniesst er es, wenn ihm «Somewhere over the Rainbow» vorgesungen wird.

*Name von der Redaktion geändert

Weiterführende Informationen

Hinweis

Dieser Artkel erschien im UZH Magazin 3/2015 zum Thema «Weshalb Musik uns gut tut». Diesem Thema wird auch der Talk im Turm vom 26.10.2015 gewidmet sein.